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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Flickwerk, das von der Dämmerung ins Schwarz genötigt wird, über das winkelige Muster einer weiteren dachlosen Stadt, den Faden eines Flüßchens, der im letzten Sonnenlicht erglüht.
    Der Sonnenuntergang ist rot und gelb wie der Ballon. Auf dem Horizont taucht die milde Kugel unter, abgeplattet, ein Pfirsich auf einem Teller aus Porzellan. "Je weiter wir nach Süden gehen", fährt Schnorp fort, "desto schneller stürmt der Schatten vorwärts, bis zum Äquator: eintausendsechshundert Kilometer in der Stunde. Phantastisch. Er durchbricht die Schallmauer irgendwo über Südfrankreich - etwa auf der Breite von Carcassonne."
    Und weiter schiebt der Wind die beiden nach Nordost. "Südfrankreich, yeah", fällt Slothrop ein, "dort hab auch ich die Schallmauer durchbrochen..."

[3.5] DURING THE EARLY STALIN DAYS ...

    Die Zone steht hoch im Sommer. Man findet Menschen hinter Mauerresten dösen, zusammengerollt und schlafend auf dem Grund von Bombentrichtern, beim Ficken unter Kanalbrücken, die grauen Hemdschöße hochgerafft, oder träumend über freie Felder streifen: träumend vom Sattwerden, vom Vergessen, von alternativen Geschichten ...
    Stille ist hier ein Sichzurückziehen von Schall, ähnlich dem Rückzug der Brandung vor einer Flutwelle: ein Versickern im Sand akustischer Gezeiten, um sich anderswo zu sammeln zu einer großen Woge von Geräusch. Kühe - große, schwarz und weiß gefleckte Tolpatsche, die man jetzt vor die Pflüge spannt, weil deutsche Pferde in der Zone so gut wie ausgestorben sind -
    trotten mit unbewegten Mienen geradewegs in die Minenfelder, die im vergangenen Herbst gesät worden sind. Fürchterliche Explosionen donnern über das Bauernland, Hörner, Häute und Rinderhack regnen vom Himmel, und zerbeulte Glocken liegen schweigend im Klee. Pferde hätten vielleicht gewußt, wo sie hintreten konnten und wo nicht - aber die Deutschen haben ihre Pferde verschwendet, die Rasse vergeudet, als sie sie ins Schlimmste hetzten, das sie zu bieten hatten, die Stahlgewitter, die rheumatischen Sümpfe, die deckenlosen Winterfröste unserer letzten Fronten. Einige wenige mögen Zuflucht bei den Russen gefunden haben, denen Pferde noch etwas bedeuten. Man kann sie jetzt oft abends hören, an Lagerfeuern hinter Buchenwäldern, die ihren Lichtschein kilometerweit in den fast trockenen Dunst des nördlichen Sommers schicken, der gerade ausreicht, den
    Strahlen einen Schimmer von Kontur zu geben - ein Dutzend Akkordeons und Concertinas, die ihre rauschenden Akkorde mit einem leichten Zungenflattern in Lieder voller klagender sdwijes und snyis mischen, aus welchen die Stimmen der Hilfskorps-Mädchen am hellsten herausklingen. Die Pferde wiehern und scharren im verdorrenden Gras. Die Männer und Frauen sind freundlich, erfinderisch, fanatisch -sie sind die fröhlichsten unter den Überlebenden der Zone.
    Mitten durch all dieses vibrierende Fleisch schleicht Tschitscherin, der wütende Aasjäger, der mehr aus Metall besteht als aus irgend etwas anderem. Stählerne Zähne blitzen, wenn er spricht. Unter seinen zurückgekämmten Haaren verbirgt sich eine silberne Platte. Goldenes Drahtgeflecht zieht sich wie eine dreidimensionale Tätowierung durch die Knorpel- und Knochenreste seines rechten Kniegelenks - eine Form, deren Gegenwart er ständig spürt, ein handgefertigtes Siegel des Schmerzes und die stolzeste seiner Tapferkeitsauszeichnungen, denn sie ist unsichtbar, nur er fühlt sie allein. Vier Stunden dauerte die Operation, bei Nacht, an der Ostfront, ohne Licht, ohne Sulfonamide, ohne Betäubung. Natürlich ist er stolz. Er ist hierhermarschiert, mit seinem Hinken, das so dauerhaft ist wie sein Gold, heraus aus Kälte, grünen Wiesen und Geheimnis. Offiziell ist er dem ZAGI unterstellt, dem aero- und hydrodynamischen Zentralinstitut in Moskau. In seinen Befehlen ist von technischer Abwehrtätigkeit die Rede. Doch sein wahrer Auftrag in der Zone ist persönlicher Natur, ist eine Obsession, die keineswegs - wie seine Vorgesetzten ihm schon auf die verschiedensten delikaten Weisen angedeutet haben - im Interesse des Volkes liegt. Tschitscherin muß zugeben, daß der Vorwurf, wörtlich verstanden, nur allzu berechtigt ist. Aber er ist sich nicht sicher, wie es mit den Interessen derer steht, die ihn gewarnt haben. Sie könnten, egal, was sie behaupten, durchaus ebenfalls Gründe haben, Enzian liquidiert sehen zu wollen. Ihre Differenzen mit Tschitscherin könnten sich nur auf den Zeitpunkt und die Motive beziehen.

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