Die Enden der Parabel
segeln in Armadas über endlose Desjatinen von Gras und Wollblumenrispen auf die asiatische Arktis zu, verlieren sich in grüngrauem Windgekräusel am Horizont. Ein erstaunlicher Wind. Aber er steht mittendrin, auf der offenen Straße, knöpft sich die Hose zu, spürt die Jackenaufschläge knatternd gegen seine Brust schlagen und flucht auf Armee, Partei und Geschichte - wem immer er es zu verdanken hat, daß er hier ist. Es wird ihm nicht gelingen, diesen Himmel oder diese Steppe, diese Menschen oder ihre Tiere zu lieben. Er wird nie hierher zurückblicken, nicht in den schlimmsten Sumpfbiwaks seiner Seele, nicht in nackten Leningrader Scharmützeln mit dem sicheren Tod, dem eigenen oder dem der Kameraden, vor Augen: Nie wird eine Erinnerung an das Siebenstromland bei ihm sein. Keine hier gehörte Musik, kein Ausritt im Sommer... keine Pferdesilhouette in der Steppe vor dem späten Abendhimmel... Und ganz gewiß nicht Galina. Galina kann sich gar nicht zu
dem verfestigen, was man "Erinnerung" nennt. Schon jetzt ist sie mehr die Gestalt eines Alphabets, die Anleitung für das Zerlegen einer Moisin - ja, man denkt an sie, wie man daran denkt, den Abzug mit dem Zeigefinger der linken Hand zurückzuhalten, während die rechte den Bolzen entfernt, eine Folge von verzahnten Sicherheitsvorkehrungen, ein Teil eines Prozesses zwischen den drei Exilanten Galina/Luba/Tschitscherin, der seine Veränderungen, seine kleine Dialektik ausspielt, bis er an sein Ende gekommen ist und außer der Struktur nichts zu erinnern übrigbleibt...
Ihre Augen verbergen sich in eisengrauen Schatten, die Höhlen sind verdunkelt wie von genau gezielten Schlägen. Ihr Kinn ist klein, eckig, vorgeschoben, die untere Zahnreihe zeigt sich eher, wenn sie spricht... Fast nie ein Lachen. Die Knochen in ihrem Gesicht kompakt und stark gebogen. Ihre Aura ist Kreidestaub, Kernseife, Schweiß. Und immer ist die verzweifelte Luba in ihrer Nähe, in ihrem Zimmer, an ihrem Fenster, ein graziöser Falke. Galina hat sie abgerichtet - aber nur Luba ist es, die fliegt, die den werstlangen Sturz in die Tiefe kennt, den Schock der Klauen und das Blut, während ihre hagere Besitzerin unten im Klassenzimmer bleiben muß, eingesperrt in Wörter, in Schauer und Eisblumen aus weißen Wörtern. Licht pulsiert hinter den Wolken. Tschitscherin betritt das Zentrum, zieht eine Schmutzspur von der Straße in die Mitte des Raumes, erntet ein Erröten von Luba, einen grimassierenden Kotau von Chu Piang, dem komischen chinesischen Faktotum, und unenträtselbare Blicke von ein oder zwei frühen Schülern. Dzaqyp Qulan, der "eingeborene" Wanderlehrer, blickt auf aus einem Durcheinander von mattbunten Landkarten, schwarzen Theodoliten, Schnürsenkeln, Dichtungsringen für Traktoren, Steckern, fettigen Enden von Kuppelstangen, Kartentaschen aus Metall, 7,62-mm-Patronen, Lepjoschka-Stücken und-Krümeln und will gerade um eine Zigarette bitten, als sie schon aus Tschitscherins Tasche zu ihm unterwegs ist. Er lächelt ein Danke. Ist auch besser so. Er ist sich über Tschitscherins Absichten nicht ganz im klaren und noch viel weniger über die Freundschaft, die ihm der Russe entgegenbringt. Dzaqyp Qulans Vater ist 1916 während des Aufstands umgekommen, als er vor Kuropatkins Truppen nach China fliehen wollte - zusammen mit etwa hundert anderen flüchtenden Kirgisen, die an einem einzigen Abend im fast ausgetrockneten Bett eines Flusses abgeschlachtet wurden, den man vielleicht nach Norden bis zum Punkt Null verfolgen konnte auf dem Dach der Welt. Russische Siedler in heller Bürger-wehrt-euch-Panik umzingelten und töteten die dunkelhäutigen Flüchtlinge mit Schaufeln, Forken, alten Flinten, jeder Waffe, die ihnen in die Hände kam. Ein ziemlich alltäglicher Vorfall in der Semiretschje von damals, selbst in dieser Entfernung von der Bahnlinie noch. Sarten, Kasachen, Kirgisen, Dunganen wurden in diesem furchtbaren Sommer gehetzt wie jagdbares Wild. Die täglichen Abschußquoten wurden notiert und verglichen - es war ein Wettstreit, gutgelaunt zwar, aber doch mehr als Spiel. Tausende von unruhigen Eingeborenen bissen ins Gras. Ihre Namen, selbst die Zahl der Opfer, verloren für immer. Hautfarben und Trachten wurden zu hinreichenden, zu vernünftigen Gründen, ihre Träger einzusperren, zu mißhandeln, zu ermorden. Selbst Sprechgewohnheiten und Akzente reichten schließlich - liefen doch Gerüchte von eingesickerten türkischen und deutschen Agenten um, die nicht zuletzt von Petrograd
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