Die Enden der Parabel
da für deine Reise." "Aber ich will nicht -"
"Du willst nicht noch ein abgeschlachteter Ungläubiger mehr sein. Zu spät, Biobadjan. Hier geht's lang... "
Das erste, was er lernt, ist, seinen Brechungsindex zu verändern. Alle Variationen zwischen durchscheinend und opak stehen ihm zur Wahl. Nachdem sich der Reiz des Experimentierens verbraucht hat, entschließt er sich zu einem fahlen, gebänderten Onyx-Effekt.
"Steht dir gut", murmeln seine Führer. "Aber jetzt beeil dich."
"Nein, ich möchte Tschitscherin zahlen, was ihm gebührt."
"Zu spät. Von dem, was ihm gebührt, bist du kein Teil mehr. Nie mehr."
"Aber er -"
"Er hat eine Blasphemie begangen. Der Islam hat seine eigene Maschinerie für so etwas. Engel und Sanktionen, und sorgfältige Verhöre. Laß ihn. Er hat einen anderen Weg zu gehen."
Wie alphabetisch ist doch die Natur der Moleküle. Hier unten erst wird einem das bewußt. Man findet Komitees für Molekülstrukturen, die jenen oben bei den Sitzungen der NTA-Versammlung zum Verwechseln gleichen. "Sieh hin: wie man sie aus dem Fluß der Schlacken siebt, formt, reinigt, destilliert, so wie du einst deine Buchstaben gerettet hast aus dem regellosen, sterblichen Strom der gesprochenen Sprache ... Dies hier sind unsere Buchstaben, unsere Wörter: auch sie können moduliert, getrennt, neu zusammengefügt, umgedeutet, eins an das andere mischpolymerisiert werden zu weltweiten Ketten, die nur hin und wieder an die Oberfläche des molekularen Schweigens treten, wie die sichtbaren Teile eines geknüpften Teppichs."
Blobadjan lernt begreifen, daß das Neue Türk-Alphabet nur eins von vielen Gesichtern eines viel älteren - und seiner selbst viel bewußteren - Prozesses ist, als er je Grund hatte zu träumen.
Nach und nach verliert sich der hektische Wettbewerb zwischen .1 und G in eine triviale Erinnerung aus der Kinderzeit. Schattenhafte Anekdoten. Er ist jenseits der Grenze - einst ein säuerlicher Bürokrat mit einer Oberlippe, die so klar begrenzt war wie die eines Schimpansen, jetzt ein Abenteurer auf einer Reise, die ihm selbst gehört, auf einer unterirdischen Strömung, bei der ihn nicht beunruhigt, wohin sie ihn tragen mag. Er hat sogar, schon unendlich weit stromaufwärts, seinen Stolz auf das Gefühl des Mitleids verloren, das er einmal für Wjatscheslaw Tschitscherin empfand, der niemals sehen wird, was Blobadjan sieht...
Und die gedruckte Schrift tritt ihren Siegeszug an ohne ihn. Redaktionsboten mit wehenden, verschmierten Fahnen hetzen an langen Reihen von Schreibtischen entlang. Aus Tiflis werden Experten eingeflogen, die die einheimischen Drucker in Schnellkursen mit dem NTA-Satz vertraut machen. Gedruckte Plakate erscheinen in den Städten, in Samarkand und Pischpek, Verney und Taschkent. Erste Parolen in Blockbuchstaben beginnen auf Gehsteigen und Mauern aufzutauchen, erste zentralasiatische Graffiti, erste "Tod dem Polizeikommissar"-Losungen (und der Mann wird erschossen! An dem neuen Alphabet scheint etwas dran zu sein!), und so fängt der alte Zauber, den die Schamanen draußen im Wind schon immer gekannt haben, nun auf eine politische Weise zu wirken an, und Dzaqyp Qulan hört bei Nacht, wie der Geist seines gelynchten Vaters mit einer kratzenden Feder As und Bs übt...
Hier aber kommen Tschitscherin und Dzaqyp Qulan über ein paar niedrige Hügel und in das Dorf hinabgeritten, das sie gesucht haben. Die Dorfbewohner sind in einem Kreis versammelt: den ganzen Tag schon feiern sie ein Fest. Feuer schwelen auf kleiner Flamme. In der Mitte der Menge ist ein freier Raum gelassen, aus dem man, schon auf diese Entfernung, zwei junge Stimmen hören kann. Es ist ein Ajtys -ein Gesangsduell. Ein Junge und ein Mädchen stehen im Auge des Dorfes und necken sich mit einem Tja-eigentlich-mag-ich-dich-schon-obwohl-mich-ein-zwei-Dinge-stören-zum-Beispiel-Dialog, während Qobyz und Dombra klimpernd und zirpend die Melodie umspielen. Bei guten Versen lachen die Zuhörer. Man muß ziemlich auf Draht sein bei diesem Spiel, denn der Wechselgesang wird in vierzeiligen Strophen geführt, bei denen die beiden ersten und die letzte Zeile auf ein gleiches Reimwort enden. Obwohl die Zeilen keine bestimmte Länge zu haben brauchen und nur in den Atemrhythmus passen müssen, kann das unter dem Zeitdruck ganz schön schwierig werden. Und auch beleidigend. Es gibt Dörfer, in denen manche Pärchen nach einem Ajtys jahrelang kein Wort mehr gewechselt haben. Als Tschitscherin und Dzaqyp Qulan in das Dorf
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