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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Schiffen um seine Ohren pfeifen, wird er an die sich langsam mit Kohlenstoff überziehenden Gesichter der Männer denken, die er zu kennen geglaubt hatte, an die Verwandlung von Menschen in Kohle, uralte Kohle, die mit jedem Kristall funkelte im heiseren Sprühen der Jablotschkow-Kerzen und mit jedem Splitter traf ... eine Verschwörung des Kohlenstoffs, obwohl er nie von "Kohlenstoff" sprach - für ihn war es Gewalt, vor der er floh, das Gefühl von zu viel sinnloser Gewalt auf einem falschen Weg ... er konnte Tod darin riechen. So wartete er, bis ihm der Schiff s-profos, als er sich eine Zigarette anzündete, den Rücken zu- kehrte, und ging einfach weg - alle waren schon zu schwarz, künstlich schwarz, als daß es aufgefallen wäre - und fand an Land das ehrliche Schwarz des ernsten Hereromädchens, das wie ein Atemzug des Lebens war nach langem Kerker, und blieb bei ihr am Rand der flachen, trauernden kleinen Stadt nahe der Bahnlinie in einer Einzimmerhütte aus jungen Zweigen, Pappkartons, Riedgras und Schlamm. Der Regen strömte. Die Züge schrien und schnauften. Der Mann und die Frau blieben im Bett und tranken Kari, was aus Kartoffeln, Erbsen und Zucker gebraut wird und in der Hererosprache "der Trank des
    Todes" heißt. Es war kurz vor Weihnachten, und er schenkte ihr eine Medaille, die er irgendwann einmal bei einem Übungsschießen in der Ostsee gewonnen hatte. Als er sie verließ, hatten beide den Namen des anderen auszusprechen gelernt und auch ein paar Wörter in der fremden Sprache - ängstlich, glücklich, schlafen, lieben ... die Anfänge eines neuen Pidgin, das auf der ganzen Welt vielleicht nur von ihnen beiden gesprochen wurde.
    Doch er ging zurück. Seine Zukunft gehörte dem Baltischen Geschwader, daran wagten weder er noch das Mädchen zu zweifeln. Der Sturm flaute ab, Nebel bedeckte die See. Tschitscherin dampfte davon, wieder eingeschlossen in sein finsteres und stinkendes Loch unterhalb der Wasserlinie des Suworow, wo er seinen Weihnachtswodka trank und Seemannsgarn spann von seiner guten Zeit an einem Ort, der nicht schwankte, damals am Rand des trockenen Velds, als etwas anderes seinen Penis warm und freundlich einschloß als seine eigene Faust. Schon sprach er von ihr wie von einer heißen Eingeborenenhure. Das ist die älteste der Geschichten auf See. Als er sie erzählte, war er nicht mehr Tschitscherin, sondern eine eingesichtige Menge in Vergangenheit und Zukunft, verloren alle, aber nicht alle unglücklich. Das Mädchen könnte auf irgendeinem Kap gestanden haben, um zu beobachten, wie die grauen Linienschiffe eines nach dem anderen vom Nebel des Südatlantik aufgesogen wurden, doch so gut jetzt ein paar Takte Madame Butterfly auch passen würden, ist es wahrscheinlicher, daß sie entweder schlief oder auf der Suche nach einem Freier war. Ihr stand keine leichte Zeit bevor. Tschitscherin hatte ein Kind in ihr zurückgelassen, das ein paar Monate nach jenem 27. Mai geboren wurde, an dem der Kanonier vor den grünen Wäldern und schroffen Klippen der Insel Tsushima ertrank, ganz früh am Abend.
    Die Deutschen registrierten die Geburt und den Namen des Vaters (er hatte ihn ihr aufgeschrieben, wie es Seeleute tun - er hatte ihr seinen Namen gegeben) in ihrer Zentralkartei in Windhoek. Wenig später wurde ein Passierschein für Mutter und Kind zur Rückkehr in das Heimatdorf ausgestellt. Eine Volkszählung, mit der die Kolonialverwaltung feststellen wollte, wie viele Eingeborene sie getötet hatte, fand statt, kurz nachdem Enzian von den Buschmännern in sein Dorf zurückgebracht worden war, und führt die Mutter als verstorben, ihr Name ist aber bei den Akten. Ein Einreisevisum für Enzian nach Deutschland vom Dezember 1926 und ein späterer Antrag auf Zuerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft liegen beide in Berliner Archiven.
    Es hat einige Beinarbeit gekostet, all diese Fetzen von Papier zusammenzufügen. Tschitscherin fing an mit nichts als einem kurzen Hinweis in den Papieren der Admiralität. Doch das war in der Zeit von Feodora Alexandrewna, der mit der Kitzleder-Unterwäsche, und die Zugangsmöglichkeiten für Tschitscherin waren damals ein wenig besser, als sie es heute sind. Auch der Vertrag von Rapallo war bereits in Kraft, so daß es genügend Verbindungen nach Berlin gab. Ein merkwürdiges Stück Papier ... in Augenblicken kranker Größe sieht er ganz klar, daß sein Namensvetter und der ermordete Jude in Rapallo einen raffinierten Theatercoup gelandet haben, während

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