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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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nahm mir die Augen, Und ich fühle jetzt wie ein Säugling die Welt. Im Norden liegt es, ein Ritt von sechs Tagen, Zuerst durch die schroffen und todgrauen Schluchten,
    Dann über die Wüste aus Steinen Zu dem Berg, der einer Jurte aus Schnee gleicht. Und erst, wer dies alles bestanden, Wird finden den schwarz ragenden Fels.
    Doch willst du geboren nicht werden, Dann bleib sitzen am wärmenden Feuer, Bleib bei deiner Frau, bleib in deinem Zelt, Wo das Licht dich niemals wird finden, Wo dein Herz dir schwer wird vom Alter Und deine Augen sich nur schließen zum Schlaf.
    "Ich hab's", sagt Tschitscherin. "Laß uns reiten, Genosse." Und ab durch die Mitte, die Feuer erkaltend im Rücken, das Zirpen der Saiten, die Geräusche des dörflichen Gelages verschluckt schon vom Wind.
    Und weiter in die Schluchten. Hoch im Norden blitzt ein weißer Gipfel in den letzten Strahlen der Sonne. Hier unten ist es schon schattig und Abend. Tschitscherin wird das Kirgisische Licht finden, aber nicht seine Geburt. Er ist kein Aqyn, und sein Herz war nie bereit. Kurz vor einer Morgendämmerung wird er es sehen. Er wird zwölf Stunden lang, das Gesicht nach oben gewandt, in der Wüste liegen, eine prähistorische Stadt, größer als Babylon, in ersticktem, mineralischem Schlaf einen Kilometer unter seinem Rücken, während der Schatten des ragenden Felsens, der in eine Spitze ausläuft, einen Bogen von Westen nach Osten beschreibt und Dzaqyp Qulan ihn pflegt, ängstlich wie ein Kind die Puppe, und trocknender Schaum die Hälse der beiden Pferde mit einem Muster überzieht. Eines Tages aber, so wie die Berge, die jungen exilierten Frauen in ihrer Liebesgewißheit, ihrer Unschuld vor ihm, die morgendlichen Beben und den wolkenjagenden Wind, eine Säuberung und einen Krieg und die Millionen und aber Millionen von Seelen, die hinter ihm verschwunden sind, wird er Es fast vergessen haben, sich kaum noch erinnern können.
    Doch in der Zone, verborgen in der sommerlichen Zone, wartet die Rakete. Er wird den gleichen Weg noch einmal gehen müssen...

[3.6] Rocketman; die fünf Positionen der Startsequenz

    Letzte Woche, irgendwo im britischen Sektor, wo er blöd genug war, Wasser aus einem Zierteich im Tiergarten zu trinken, hat sich Slothrop eine Infektion geholt.
    Jeder Berliner dieser Tage weiß genug, um das Wasser abzukochen, ehe er es trinkt, obwohl manche dann noch weiter gehen und mit allem möglichen Zeug einen Tee aufzubrühen versuchen, zum Beispiel mit Tulpenzwiebeln, was ins Auge gehen kann. Die Neuigkeit, daß das Innere der Tulpenzwiebel ein tödliches Gift enthält, kursiert bereits - trotzdem machen sie es immer wieder. Anfangs dachte Slothrop -der "Raketenmensch", wie man ihn bald nennen wird -, daß er die Leute vor den Tulpenzwiebeln warnen müsse. Ein bißchen Amerikanische Aufklärung verbreiten. Aber sie haben ihn zur Verzweiflung getrieben hinter ihren Vorhängen aus europäischem Leid, die er Schleier um Schleier zur Seite schieben kann, nur um immer auf den letzten, undurchdringlichen zu stoßen...
    Da haben wir ihn also, unter den sommerlichen Bäumen, viele blühend, viele von Explosionen umgeblasen oder in Späne und Splitter zerfetzt - feiner Staub steigt wie von selbst durch die Sonnenstrahlen über den Reitwegen, Geister von Pferden drehen noch immer ihre frühmorgendlichen Runden durch den Park der Friedenszeit. Durstig nach einer durchwachten Nacht liegt Slothrop auf dem Bauch und schlürft Wasser hoch, ganz wie ein alter Satteltramp am Wasserloch - der Narr. Erbrechen, Krämpfe, Durchfall, wer ist er eigentlich, um andere über Tulpenzwiebeln zu belehren? Er schafft es gerade noch, bis zu einem leeren Keller gegenüber einer ausgebombten Kirche zu kriechen, krümmt sich zusammen und verbringt die nächsten Tage im Fieber, zitternd, Dünnschiß tropfend, der wie Säure brennt -gestrandet, allein mit dieser exquisiten deutschen Kinoschurkenfaust, die sich in seinen Därmen zusammenkrampft, ja - jetzt willst du scheißen, stimmt's? Ob er Berkshire je wiedersehen wird? Mommy, Mommy! Der Krieg ist vorbei, warum kann ich nicht nach Hause? Nalline, ihr Gesicht warmgelb wie eine Butterblume vom Widerschein ihres Goldenen Sterns, grinst süßlich durch das Fenster, aber schweigt...
    Eine furchtbare Zeit. Er halluziniert Rolls-Royces und Stiefelabsätze in der Nacht, die kommen, ihn zu holen. Draußen auf der Straße heben lustlose Frauen in Kopftüchern Gräben für das schwarzeiserne Wasserrohr aus, das im Rinnstein

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