Die Enden der Parabel
Wasserrand, zwei Vögel jagen sich durch die Luft, auf und ab in einen Looping und den gestillten Sturm einer grünen Krone, wo sie sich niederlassen und zu singen beginnen. Das Licht verdichtet sich in der Entfernung zu einem trägen Schleier in Ekrü, das Fleisch der Mädchen, nicht mehr gebleicht von einer Sonne im Zenit, gewinnt in der gebrocheneren Strahlung seine warme Farbe wieder, die sanften Schatten der Oberschenkelmuskeln, das gedehnte Filament der Hautzellen, die sagen: faß mich an ... bleib ... Slothrop wandert weiter - vorbei an Augen, die aufklappen, Mündern, die in ein Lächeln ausbrechen wie freundliche Morgendämmerungen ... Was ist los mit ihm? Bleib, gewiß. Aber was heißt ihn weitergehen?
Ein paar Boote sind zu sehen, angebunden an Geländern, aber immer jemand dabei, der sein Auge drauf hält. Endlich stößt er auf ein kleines, schmales Boot mit flachem Boden, die Riemen startklar in den Halterungen und auf der Böschung eine menschenleere Decke, ein Paar Pumps, eine Männerjacke, wenig dahinter ein Gebüsch. Ohne zu zögern, geht Slothrop an Bord und sticht in See. Amüsiert euch gut - 'n bißchen hämisch -, ich kann's nicht, aber euer Boot kann ich klauen! Ha! Er rudert bis Sonnenuntergang, mit langen Pausen, so schlecht ist die Kondition, dazu hüllt ihn sein Cape in einen Kegel aus Schweiß, so daß er es schließlich ablegen muß. Enten treiben in mißtrauischem Abstand vorbei, orangeleuchtende Schnäbel, von denen Wasser tropft. Der Spiegel des Kanals kräuselt sich im Abendwind, der Sonnenuntergang in Fahrtrichtung streift das Wasser rot und golden: königliche Farben. Wracks ragen über die Oberfläche, rote Mennige und Rost, aufglühend in diesem Licht, eingedrückte graue Rumpfplatten, geplatzte Nieten, nie verlegte Kabel, die mit hysterischen Kardeelen in alle Richtungen der Windrose weisen, unhörbar tief vibrierend in der Brise. Leere Schleppkähne gleiten vorüber, einsam, verlassen. Ein Storch auf dem Heimweg zum Nest fliegt über den Kanal, unter ihm plötzlich der bleiche Bogen der Avus-Überführung, genau voraus. Ein Stückchen weiter, und Slothrop wäre wieder im amerikanischen Sektor. Er legt am linken Ufer an und setzt seinen Weg nach Süden fort, in möglichst großem Abstand an dem sowjetischen Kontrollpunkt vorbei, den seine Karte irgendwo rechts von ihm angibt. Massierte Bewegungen in der Dämmerung: russische Wachtposten, grüne Kappen einer Eliteeinheit, Pokergesichter, zu Fuß, auf Lastwagen, Pferden ... Man spürt den Widerstand des verdämmernden Tages, das Gewirr der Drahtschleifen, ihr nervöses Zittern, Potsdams Warnung: bleib weg ... bleib weg... Je näher sie kommt, desto dichter wird das Feld rund um diese eingesponnene internationale Versammlung jenseits der Havel. Bodine hat recht: keine Mücke käme dort hinein. Slothrop weiß es, aber er schleicht weiter, sucht nach weniger empfindlichen Achsen des Argwohns, läuft im Zickzack, hält sich südlich, als könne er kein Wässerlein trüben.
Unsichtbar. Es fällt leichter, daran zu glauben, je länger er unterwegs ist. In einer Mittsommernacht zwischen Mitternacht und eins ist ihm einmal ein Farnkrautsamen in die Schuhe gefallen. Er ist der unsichtbare Jüngling, der gepanzerte Wechselbalg. Der Vorsehung kleiner Gefährte. Die da drüben sind auf die Formen der Gefahr fixiert, die sie der Krieg gelehrt hat - Phantome, die zumindest einige von ihnen bis ans Ende ihrer Tage mit sich herumzuschleppen verdammt sind. Ein Glück für Slothrop - es ist ein Profil von möglichen Bedrohungen, in dem er nicht vorkommt. Sie befinden sich noch immer im Raum der Geographie, ziehen Streifen von Niemandsland, stellen Passierscheine aus, und die einzigen Wesen, die ihre Hoheitsgebiete verletzen könnten, sind in Comic-Büchern eingefangen und gebannt. So glauben sie. Sie wissen nichts von unserem Raketenmenschen hier. Sie gehen an ihm vorüber, und er bleibt allein, zu vorzeitiger Nacht verdunkelt durch Samt und Leder-und wenn sie ihn doch sehen, verbannen sie sein Bild sofort in die Semiretschje ihrer Seele, wo es exiliert bleibt bei den anderen Kreaturen ihrer Nacht...
Bald wendet er sich wieder nach rechts, dem Sonnenuntergang entgegen. Da ist noch immer dieser große Super-Highway, den es zu überwinden gilt. Manche Deutsche haben seit zehn und zwanzig Jahren ihre Familie nicht mehr gesehen, weil sie sich auf der falschen Seite befanden, als die Autobahn an ihrem Haus vorbei gebaut wurde. Nervös jetzt und mit
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