Die Enden der Parabel
wußte nie, wovon der Mann überhaupt redete. Doch Mondaugen verstand. Mondaugen war der Bodhisattva hier, zurückgekehrt aus dem Exil der Kalahari und von welchem Licht auch immer, das ihn dort gefunden hatte, zurückgekehrt in die Welt der Menschen und Nationen, um eine Rolle weiterzuspielen, die er bewußt gewählt hatte, ohne jedoch jemals zu begründen, weshalb. In Südwest hatte er kein Tagebuch geführt und keine Briefe in die Heimat geschrieben. Im Jahre 1922 war es bei den Bondelswaartz zu einem Aufstand und im ganzen Land zu einem allgemeinen Aufruhr gekommen. Als seine Funkexperimente unterbrochen wurden, suchte er, gemeinsam mit ein paar Dutzend anderen Weißen, Zuflucht im Landhaus eines Farmers aus der Gegend namens Foppl. Sein Haus war eine Festung, nach allen Seiten durch tiefe Gräben abgesichert. Nach ein paar Monaten der Belagerung und der Ausschweifungen ging Mondaugen, "gequält von einem tiefen Ekel vor allem Europäischen", allein hinaus in den Busch und landete schließlich bei den Ovatjimba, dem Aardvark-Volk, den Ärmsten der Hereros. Sie nahmen ihn ohne Fragen bei sich auf. Er hatte, dort wie hier, von sich selbst die Vorstellung, eine Art Radiosender zu sein, und war damals überzeugt, daß er jedenfalls nichts ausstrahlte, was ihnen gefährlich werden konnte. Für seinen Elektromystizismus hatte die Triode eine ähnliche, grundlegende Bedeutung wie das Kreuz in der Christenheit. Man denke sich das Ich, das individuelle Selbst, das eine persönliche Geschichte in der Zeit erleidet, als das Steuergitter. Das tiefere und wahre Selbst ist der Fluß zwischen Kathode und Anode, der konstante, reine Strom. Signale - Sinnesdaten, Empfindungen, hochkommende Erinnerungen - werden an das Steuergitter gelegt und modulieren den Fluß. Die Leben, die wir leben, haben die Gestalt von Wellenzügen, die sich ständig in der Zeit verändern, abwechselnd ins Positive und ins Negative. Nur in Augenblicken großer Gelassenheit kann es gelingen, den reinen, informationslosen Zustand des Signals Null zu finden. "Im Namen der Kathode, der Anode und des heiligen Gitters?" fragte Pökler. "Ja, das ist gut", lächelte Mondaugen.
Am nächsten kam der Null von ihnen allen vielleicht der Afrikaner Enzian, der Protege von Major Weißmann. In der Versuchsanstalt nannte man ihn, hinter seinem Rücken, "Weißmanns Monstrum", wahrscheinlich weniger aus Rassismus als des Bildes wegen, das die beiden abgaben, Enzian einen ganzen Kopf größer als der schon kahl werdende Weißmann, der mit dem Ausdruck des Gelehrten durch flaschenbödendicke Brillengläser zu dem Afrikaner aufblickte und ab und zu ein paar rasche Trippelschritte einlegen mußte, um nicht zurückzufallen auf ihren Gängen über den Asphalt und durch die Laboratorien und Büros, die alle, wie die Landschaft draußen, dominiert wurden von Enzians Erscheinung in den frühen Tagen der Rakete... Die deutlichste Erinnerung, die Pökler an ihn aufbewahrt, ist gleichzeitig die erste, im Meßraum in Kummersdorf, umgeben von elektrischen Farben - dem Grün der Stickstoffflaschen, dem undurchdringlichen Gewirr der roten, gelben, blauen Leitungen, auf dem Kupferbraun von Enzians Gesicht eine Gelassenheit, wie man sie hin und wieder auch über Mondaugens Züge gleiten sah -, den Blick in einen der Spiegel mit dem Bild des Raketenofens auf der anderen Seite der Betonschutzmauer gerichtet: In der schalen Luft dieses Raumes, die vibrierte von der Angst des letzten
Augenblicks, von unvernünftigen Gebeten und der Gier nach Nikotin, befand sich Enzian in einem Zustand des Friedens ...
Im Jahre 1937 zog Pökler, mit etwa 90 anderen, nach Peenemünde. Ihr Angriff galt der Schwerkraft selbst, und sie mußten einen Brückenkopf errichten. Noch nie in seinem Leben, nicht einmal als Arbeiter in Berlin, hatte Pökler so schwer geschuftet. Die Vorhut brachte Frühling und Sommer damit zu, eine kleine Insel, die GreifswalderOie, in ein Testgelände zu verwandeln: sie befestigten die Straße, legten Kabel und Telephonleitungen, zogen Quartiere, Latrinen, Materialschuppen hoch, hoben einen Beobachtungsbunker aus, mischten Beton, schleppten Werkzeugkisten, Säcke voll Zement, Benzinkanister. Ein leicht antikes Fährschiff wurde als Frachter zweckentfremdet und für die Transporte vom Festland auf die Oie eingesetzt. Pökler erinnert sich an die roten, abgesessenen Plüschmöbel und den zerkratzten Lack in den dämmrigen Kabinen, die blinden Messingarmaturen, den asthmatischen Schrei der
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