Die Enden der Parabel
zerbrechlichen Mond, dem langsamen Kreisen der roten und grünen Lampen des Rades vor dem Fenster, dem Gesang einer Gruppe von Schuljungen auf der Straße, deren Lied älter war als ihre verratene und mißhandelte Zeit - Juch-heirassas-sa! O tempo-tempora! -, die Figuren und Spielzüge, das Feld des Schachbretts klar, und Pökler erkannte, daß dieses Kind, solange er spielte, Ilse sein mußte - sein wahres Kind, so wahrhaftig, wie er sie schaffen konnte. Es war der Augenblick der eigentlichen Zeugung, in dem er, Jahre zu spät, zu ihrem Vater wurde.
Während der restlichen Tage ihres Urlaubs schlenderten sie in Zwölfkinder herum, immer Hand in Hand. Lampions, die von den Rüsseln von Elefantenköpfen auf hohen Säulen baumelten, erhellten ihren Weg... über hochbeinige Brücken durch Affen-, Hyänen- und Schneeleopardengehege ... entlang der Liliputbahn, zwischen den Wellrohrbeinen von Dinosauriern aus Stahlgeflecht hinunter zu einem Stück afrikanischer Wüste, wo tückische Eingeborene exakt alle zwei Stunden das Lager von General von Trothas tapferen Männern in Blau überfielen, dargestellt von übermütigen Jungen und bei Kindern jeden Alters ein patriotischer Renner ... schließlich auf das riesige Rad, das nackt und gnadenlos nur einem klaren Auftrag diente: zu heben und zu ängstigen...
An ihrem letzten Abend - was er nicht wußte, denn sie sollte ihm so unsichtbar und plötzlich genommen werden wie im vergangenen Jahr - standen sie wieder vor den ausgestopften Pinguinen und dem falschen Schnee, und um sie herum flackerte das künstliche Polarlicht.
"Nächstes Jahr", und er drückte ihre Hand, "fahren wir wieder hierher, wenn du magst."
"O ja. Jedes Jahr, Papi."
Am nächsten Morgen war sie verschwunden, zurückgenommen in den kommenden Krieg, und Pökler war allein in einem Kinderland, um also doch zurückzukehren nach Peenemünde, ohne sie...
So ging es in jedem der sechs Jahre, die seitdem verstrichen sind. Eine Tochter pro Jahr, jede etwa ein Jahr älter, jedesmal ein Anfang, fast vor dem Nichts. Die einzige Kontinuität bestand in ihrem Namen, in Zwölfkinder und in Pöklers Liebe - einer Liebe wie der Trägheit des Auges, die sie benutzten, um ihm das lebende Bild einer Tochter vorzugaukeln, eine Projektion nur dieser Einzelbilder jedes Sommers, aus welchen er sich selbst die Illusion seines Kindes schaffen mußte ... war nicht die Zeitskala völlig nebensächlich, der vierundzwanzigste Teil einer Sekunde oder ein Jahr? Nicht anders, dachte sich der Ingenieur, als in einem Windkanal oder bei einem Oszillographen, dessen Walze man nach Belieben langsamer oder schneller laufen lassen konnte...
Vor dem Windkanal in Peenemünde, neben der großen, zwölfeinhalb Meter hohen Kugel, hat Pökler in der Nacht gestanden und den arbeitenden Pumpen zugehört, die die Luft aus dem weißen Kessel saugten, fünf Minuten anwachsender Leere -dann ein schrecklicher Atemzug: zwanzig Sekunden Überschallströmung... dann der dumpfe Fall der Schnellschlußklappe, und wieder das Geräusch der Pumpen ... er hat zugehört und den Rhythmus seiner Liebe zu Ilse erkannt, für die, nach einem Jahr des Evakuierens, jeden August die Klappe fiel, geschaltet mit der gleichen Sorgfalt... er hat gelächelt, hat Trinksprüche ausgebracht, hat mit Major Weißmann Kasernenwitze ausgetauscht und währenddessen unablässig, hinter der Musik und dem Gekicher, die lebenden Figuren gehört, die in Dunkelheit und Winter über das Marschland und die Bergketten des Bretts geschoben wurden ... er hat die Testdurchgänge der Halbmodelle im Windkanal verfolgt, die Messungen der Druckverteilung über den Längsschnitt der Rakete bei Hunderten von Machzahlen - hat das wahre Profil der Rakete entstellt und verhöhnt gesehen, eine Rakete aus Wachs, dickköpfig wie ein Delphin um die Kaliberlänge zwei, sich verjüngend auf den Schwanz zu, der steil aufgereckt war damals, eine unmögliche Spitze mit einer abgeflachten, zweiten Schulter im Schlepp - und hat dabei erkannt, wie sein eigenes Gesicht ohne Licht und Optik zu entwerfen war, allein aus den Druckdichten im Strömungsfluß des Reiches, der Unterdrückung und der Liebe, durch den es sich bewegte... Und ihm war klar, daß er dabei die gleiche Deformation erleiden mußte wie durch den Tod, der das Gesicht entstellt zum Schädel...
1943 entging Pökler, weil er in Zwölfkinder war, dem englischen Luftangriff auf Peenemünde. Als er auf das Gelände zurückkam, schon als er das Barackenlager
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