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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Kind geschickt? Weshalb hast du sie dir das letzte Mal nicht genauer angesehen, Pökler? Diesmal fragte er, wie lange sie bleiben dürfe.
    "Sie werden es mir sagen. Und ich werde versuchen, es dich wissen zu lassen." Und würde diese Zeit ihm reichen, sich von seinem kleinen Eichhörnchen, das von einem Leben auf dem Mond träumte, auf dieses dunkle, langbeinige, südliche Geschöpf umzustellen, dessen Verlegenheit und Sehnsucht nach einem Vater so rührend war, so augenfällig selbst für Pökler bei diesem ihrem zweiten (ersten? dritten?) Treffen? Kaum Neuigkeiten von Leni. Sie seien getrennt worden, sagte Ilse, irgendwann im Winter. Sie hatte ein Gerücht gehört, daß ihre Mutter in ein anderes Lager verlegt worden wäre. Soso. Ein Bauer rückt vor, die Königin zieht sich zurück: Weißmann, und er wartete auf Pöklers Reaktion. Diesmal war er zu weit gegangen: Pökler schnürte seine Schuhe, und ruhig genug ging er hinaus, den SS-Mann zu suchen, stellte ihn in seinem Büro, klagte ihn an vor der Geschworenenbank aus freundlichtrüben Verwaltungschargen, führte sein Plädoyer zu einer eloquenten Klimax, als er das Schachbrett samt Figuren in Weißmanns arrogantes, verkniffenes Gesicht schmiß .. .Pökler ist aufsässig, ja, ein Rebell - aber, Generaldirektor, es ist seine Art Feuer und Ehrlichkeit, die wir brauchen -
    Das Kind war plötzlich in seine Arme gekommen, ihn abermals zu küssen. Einfach so. Pökler vergaß seine Krämpfe und hielt sie lange an seine Brust gedrückt, ohne zu sprechen ...
    Aber in dieser Nacht in seiner Kammer, nur Atemgeräusche -keine Mondwünsche dieses Jahr - aus ihrem Bett, lag er wach und grübelte: eine Tochter, eine Schwindlerin? Dieselbe Tochter zweimal? Zwei Schwindlerinnen? Er begann die Kombinationen für einen dritten Besuch auszurechnen, einen vierten ... Weißmann und jene, welche hinter ihm standen, hatten Tausende solcher Kinder auf Lager... Mit den Jahren, wenn sie erst erwachsen würden, mochte Pökler sich sogar in eine von ihnen verlieben - würde sie auf diese Weise in die Gasse des Königs vorrücken, eine Ersatz-Königin für die verlorene, vergessene Leni werden? Der Gegenspieler wußte, daß Pöklers Argwohn immer größer sein würde als seine Angst vor dem vollzogenen Inzest... Sie konnten neue Regeln einführen, um die Partie endlos zu komplizieren. Wie sollte ein Mann, der so leer war, wie Pökler sich in dieser Nacht fühlte, jemals flexibel genug sein für dieses Spiel?
    Kot - es war lächerlich - hatte er sie nicht, in der alten Wohnung in der Stadt, aus jedem denkbaren Blickwinkel gesehen? Getragen, schlafend, weinend, krabbelnd, lachend, hungrig? Oft war er so erschöpft nach Hause gekommen, daß er es nicht einmal bis ins Bett schaffte und sich auf den Boden legte, zusammengerollt, den Kopf unter den einen hölzernen Tisch gestreckt, erschlagen und im Zweifel, ob er noch die Kraft zum Schlafen hätte. Als Ilse ihn zum erstenmal so sah, kroch sie an seine Seite und starrte ihn eine lange Zeit an. Sie hatte ihn noch nie so bewegungslos erlebt, horizontal und mit geschlossenen Augen... Er döste auf den Schlaf zu. Ilse beugte sich über ihn und biß ihn ins Bein, wie sie in Brotkrusten hineinbiß, Zigaretten, Schuhe, alles, was eßbar sein konnte. - Ich bin dein Vater. - Du bist schlapp und eßbar. Pökler schrie auf und rollte sich weg. Ilse begann zu weinen. Er war zu müde, um an die Disziplin denken zu wollen. Es war schließlich Leni, die sie besänftigte.
    Er kannte alle Spielarten von Ilses Weinen, kannte ihre ersten Sprechversuche, die Farben ihrer Scheiße, die Klänge und Formen, die ihr Ruhe brachten. Er hätte wissen müssen, ob dies sein Kind war oder eine Fremde. Aber er wußte es nicht. Zu viel war inzwischen geschehen. Zuviel Geschichte und Traum ... Am folgenden Morgen händigte der Gruppenführer Pökler einen Urlaubsschein und einen Gehaltsscheck mit einem Ferienbonus aus. Keine Reisebeschränkungen, aber ein Zeitlimit von zwei Wochen. Übersetzung: Wirst du wiederkommen? Er packte seine paar Sachen zusammen, und sie bestiegen den Zug nach Stettin. Die Baracken und Montagehallen, die Betonmonolithen und Stahlgerüste, die die Karte seines Lebens waren, versanken hinter ihm in einem Flimmern, verdunkelten sich zu bläulichen Klötzen, isoliert und parallaktisch über das Marschland verstreut. Würde er es wagen, nicht zurückzukommen? Vermochte er so weit vorauszudenken? Die Auswahl ihres Reiseziels hatte er Ilse überlassen. Sie

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