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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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zurück in den Schlaf. Sie streckt den Arm aus, eine blinde kleine Hand streift über den tickenden Wecker, den abgewetzten Plüschbauch von Panda Michael, die leere Milchflasche, in der trockene, purpurrote Blüten von einem Euphorbienstrauch aus einem Garten eine Meile weiter stecken: tastet sich bis zu der Stelle, wo die Zigaretten sein sollten, aber nicht sind. Schon halb aus den Decken heraus, hängt sie zwischen zwei Welten, eine bleiche, athletische Klammer in einem kalten Raum. Na schön ... Sie reißt sich los von ihm und ihrem warmen Bau und schleicht schlotternd, vuhvuhvuh, in körniger Dunkelheit über winterklamme Fußbodenbretter, die sich für ihre nackten Sohlen glatt anfühlen wie Eis.
    Die Zigaretten finden sich im Wohnzimmer, zwischen Kissen, die auf dem Fußboden vor dem Feuer liegen. Roger hat seine Kleider überall herumgestreut. Jessica steckt sich eine Zigarette an, kneift vor dem Rauch ein Auge zu und macht ein wenig Ordnung, legt seine Hose zusammen, hängt sein Hemd auf. Dann wandert sie zum Fenster, hebt den Verdunkelungsvorhang und versucht, durch die Eisblumen auf der Scheibe in den Schnee hinauszusehen, der durchzogen ist von Fährten, die Füchse, Hasen, streunende Hunde und Wintervögel hinterlassen haben, nicht Menschen. Leere Schneekanäle schlängeln sich zwischen Bauminseln zum Städtchen, von dem sie noch immer nicht wissen, wie es heißt. Jessica verbirgt die Zigarette in der hohlen Hand, um nur keinen Lichtschimmer nach draußen dringen zu lassen, obwohl die Verdunkelung schon seit vielen Wochen aufgehoben ist, bereits zu einer anderen Welt und Zeit gehört. Im Norden und Süden brummen späte Lkw-Diesel durch die Nacht, am Himmel Flugzeuge, die Richtung Osten versickern, fast Stille zurücklassen.
    Hätten sie denn nicht in Hotels gehen, Formulare ausfüllen, sich nach Kameras und Ferngläsern durchsuchen lassen können? So verwundbar ist dieses Haus, diese Stadt, dieser Kreuzbogen aus Roger und Jessica, so preisgegeben deutschen Waffen und britischen Gesetzen... zwar fühlt sie keine unmittelbare Bedrohung, aber sie wünscht sich doch, daß auch andere Menschen da wären, daß dies ein lebendiges Dorf wäre, ihr Dorf. Die Flakscheinwerfer könnten ruhig bleiben, die Nacht zu erhellen, und auch die Sperrballons, um fett und freundlich den Morgenhimmel zu bevölkern... Alles, selbst die fernen Explosionen, könnte bleiben, solange es nicht diesem Zweck diente... solange niemand sterben müßte ... warum konnte es nicht so sein? Nur das Erregende, Geräusch und Licht, dunkle Gewitterwolken im Hochsommer (in einer Welt leben, in der dies der schlimmste Schrecken des Tages wäre ...), nur freundlicher Donner?
    Jessica ist aus sich herausgeglitten, schwebt mit gebreiteten Beinen und weiß gebauschten Schultern über sich und beobachtet, wie sie in die Nacht blickt, Satinglanz auf ihrer nachtzugewandten Haut. Ehe hier nicht etwas einschlägt, nahe genug, um sie zu betreffen, haben sie ihre Sicherheit: ein Dickicht aus silberblauen Halmen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit ausstrecken und die Wolken berühren oder wegfegen, grünbraun uniformierte Kolonnen an den Spätnachmittagen, versteinert, die Augen in die Ferne gerichtet, unterwegs zu Fronten, zu hohen Zielen, die mit ihnen beiden so merkwürdig wenig zu tun haben ... weißt du denn nicht, daß gerade Krieg ist, du Simpel? Ja aber - hier steht Jessica in einem alten Pyjama ihrer Schwester, dort schläft Roger ohne alles, und wo ist er nun, der Krieg?
    Bis es sie trifft. Bis etwas fällt. Die brummende Flügelbombe wird ihnen gerade genug Zeit lassen, sich in Sicherheit zu bringen - die Rakete wird einschlagen, bevor sie sie kommen hören. Biblisch, vielleicht, oder gruselig wie eine alte, nordische Sage -aber nicht Der Krieg, nicht diese große Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, von der man jeden Tag im Radio hört. Und kein Grund, nicht einfach, nun, nicht weiterzumachen wie bisher...
    Roger hat versucht, ihr die V-Bomben-Statistik zu erklären: den Unterschied zwischen der wahrscheinlichen Verteilung der Einschläge auf der Karte (aus der Perspektive eines Engels gesehen ...) und ihrem individuellen Risiko hier unten. Sie hat's beinahe begriffen, hat fast verstanden, was seine Poisson-Verteilung bedeutet, aber sie kann den Zusammenhang nicht herstellen, kann ihre eigene, täglich erkämpfte Ruhe nicht zu den nackten Zahlen in Beziehung setzen. Immer schlüpft ihr etwas durch die Maschen.
    "Warum gilt deine

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