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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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hätten es durchaus sehen können, aber keiner hat darauf geachtet. Bei unseren Experimenten kommt es oft vor... ich glaube, M. K. Petrowa hat das als erste beobachtet, eine der Frauen, die ziemlich von Anfang an dabei waren ... es kommt vor, daß man einen Hund nur in das Laboratorium zu bringen braucht -vor allem bei unserer Arbeit an den künstlichen Neurosen... der bloße Anblick des Versuchsgestells, des Technikers, ein flüchtiger Schatten, ein Luftzug, irgendein Signal, das wir vielleicht nie rekonstruieren können, genügt, um ihn hinüberzuschicken auf die andere Seite, in das transmarginale Stadium.
    Genauso bei Slothrop. Könnte ich mir vorstellen. Allein die Umgebung, draußen in der Stadt - betrachten wir doch den Krieg selbst einmal als Laboratorium! Wenn die V2 einschlägt, dann kommt zuerst die Explosion und danach das Geräusch des Fallens ... das heißt, die normale Reihenfolge der Reize läuft umgekehrt ab ... genauso könnte er um eine bestimmte Ecke biegen, auf eine bestimmte Straße treten und plötzlich das Gefühl haben ... "
    Schweigen tritt in den Raum, geformt von gesprochenen Träumen, von den Schmerzstimmen der Raketenopfer nebenan, den Kindern des Herrn der Nacht, Stimmen, geheftet auf den stickigen Lysolgeruch des Krankensaals. Sie beten zu ihrem Meister: früher oder später eine Abreaktion, für jeden, überall in dieser eisgeeggten Stadt...
    ... da der Boden wieder wieder zu einem riesigen Lift wird, der dich ohne Warnung gegen die Decke deines Zimmers wirft - und wieder, während Wände platzen, Ziegel
    und Mörteltrümmer herabregnen... dann deine plötzliche Lähmung, der Tod betäubt und hüllt dich ein ich versteh das nicht ich muß einen Filmriß gehabt haben als ich wieder zu mir kam war sie fön und es brannte überall und mein Kopf war voll Rauch... und der Anblick deines Blutes, das aus dem schlaffen Stummel der Arterie pulst, die schneebedeckten Dachsparren quer über deinem halben Bett, der Kinokuß, der unvollendet blieb, genadelt lagst du wie ein Käfer, starrtest zwei schmerzerfüllte Stunden lang auf die zerknüllte Zigarettenpackung, hörtest die Schreie aus den Reihen rechts und links und konntest dich nicht rühren ... das plötzliche Licht, das den Raum erfüllte, die schreckliche Stille, lichter als je ein Morgen durch die Bettdecken, die durchscheinend wurden, nirgends mehr Schatten, nur diese unsagbare Zwei-Uhr-Morgendämmerung ... und dann... ... der transmarginale Sprung, die Selbstaufgabe. Wenn die Idee des Gegensatzes aufgehoben ist, die Begriffspaare ihre Gegensätzlichkeit verloren haben. (Ist es denn wirklich die Explosion der Rakete, auf die Slothrop anspricht, oder ist es nicht vielmehr genau diese Depolarisierung, die neurotische "Verwirrung", wie sie heute nacht die Krankensäle füllt?) Wie oft noch, bis es endlich weggewaschen ist, wieviele Wiederholungen müssen noch herausbrechen, wie oft muß die Explosion noch nacherlebt werden, so voller Angst, sich fallenzulassen, weil dieses Sichfallenlassen so endgültig ist woher soll ich wissen, daß ich je wieder zurückkomme, Doktor? und die Antwort vertrauen Sie uns! so schal geworden nach der Rakete, nur Spiegelfechterei -euch trauen? - und sie wissen es beide ... Spectro kommt sich längst wie ein Betrüger vor, doch er macht weiter, nur weil auch weiterhin der Schmerz so wirklich ist...
    Dann diejenigen, die sich endlich doch fallenlassen: Aus jeder Katharsis erstehen neue Kinder, schmerzlos, ichlos für die Dauer eines Pulsschlags im Dazwischen... die Tafel ist gelöscht, es wird ein neuer Text geschrieben, Hand und Kreide schweben schon in winterlichem Dunkel über diesen armen, menschlichen Palimpsesten, die vor Kälte zittern unter den Regierungsdecken, die unter Drogen stehen, die in den Tränen und dem Rotz eines Kummers ertrinken, der so echt ist, so tief aus ihrem Inneren kommt, daß er wundernimmt, daß er mehr zu sein scheint als nur ihr eigener...
    Wie Pointsman doch nach diesen hübschen Kindern lüstet!
    Seine gelblichgrauen Militärunterhosen sind zum Bersten voll von dem humorlosen, weltlichen Bedürfnis, ihre Unschuld auszunützen, neue Worte auf ihre Leiber zu schreiben, eigene Worte, seine eigenen, braunen Realpolitik-Träume, seelische Sekrete, die die Liebe unter Schmerzen versprochen hat, bis heute unerfüllt, ahh ... und wie verführerisch sie liegen, aufgereiht in eisernen Bettgestellen, auf jungfräulichen Laken, diese Herzchen in ihrer kunstlosen Erotik... Vor dem Spital der

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