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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Busbahnhof, die Stadtlinie, ihr Kreuzungspunkt (neu angekommen auf dem künstlichen Parkett, alter Kaugummi, steinkohlenschwarz festgetreten, Spritzer von nächtlich Erbrochenem, fahlgelb, klar wie der Auswurf von Göttern, alte Zeitungen und Propagandaflugblätter, ungelesen, zu sichelförmigen Fetzen zerrissen, Nasenpopel, schwarze Fusseln, die müde im Luftzug hereinwehen, wenn sich die Türen öffnen...).
    An solchen Orten hast du bis in die Morgenstunden gewartet, bist mit dem frühen Grau fast eins geworden. Du hast die Ankunftszeiten genau im Kopf, in deinem treulosen Kopf. Du weißt, wo diese Kinder weggelaufen sind und daß in dieser Stadt niemand mehr auf sie wartet. Du beeindruckst sie mit deiner Freundlichkeit. Nie bist du dir darüber klargeworden, ob sie in dich hineinsehen können, deine innere Leere erkennen. Noch weichen sie deinem Blick aus, ihre dünnen Beinchen halten niemals still, ihre gestrickten Kniestrümpfe rutschen (Gummi geht in den Krieg), aber es sieht bezaubernd aus. Kleine Absätze kicken rastlos gegen Segeltuchtaschen, gegen abgeschabte Koffer unter der Holzbank. Lautsprecher in der Decke verkünden Ankünfte und Abfahrten, erst auf englisch, dann in den Sprachen des Exils. Das Kind der heutigen Nacht hat eine lange Reise hinter sich, eine Reise ohne Schlaf. Ihre Augen sind gerötet, ihr Kleid ist zerdrückt. Der Mantel hat ihr als Kopfkissen gedient. Du fühlst ihre Erschöpfung, fühlst die unfaßbare Ausdehnung des ganzen schlafenden Landes in ihrem Rücken und wirst für einen Augenblick tatsächlich selbstlos, geschlechtslos ... Du überlegst nur noch, wie du sie schützen kannst, du bist der Gute Hirte der Reisenden.
    Hinter dir schieben sich lange, nächtelange Schlangen uniformierter Männer vorbei, meist schweigend, AWOL-Taschen mit den Füßen über den Boden schiebend, auf Ausgangstüren zu, deren beigefarbener Anstrich an den Kanten von einer Generation abschiednehmender Hände zu bräunlichen Glockenkurven abgegriffen ist. Türflügel, die sich nur ab und zu öffnen, lassen kalte Luft herein, nehmen einen kleinen Trupp Männer mit nach draußen, schließen sich wieder. Ein Fahrer oder Schaffner steht am Ausgang und kontrolliert die Fahrkarten, die Passier- und Urlaubsscheine. Einer nach dem anderen treten die Männer in das tiefschwarze Rechteck aus Nacht und verschwinden. Sie sind fort, der Krieg hat sie geholt, und schon weist der nächste seine Karte vor. Draußen dröhnen Motoren, aber sie klingen weniger nach Omnibussen als nach irgendeiner großen, ortsfesten Maschine. Tiefe Erdbebenfrequenzen dringen herein, vermischt mit der Kälte, und lassen dich spüren, daß deine Blindheit draußen, nach der Helle hier drinnen, wie ein jäher Schock sein wird ... Soldaten, Matrosen, Marineinfanteristen, Flieger. Einer nach dem anderen - fort. Wer gerade eine Zigarette raucht, bleibt einen Bruchteil länger, der schwache, kleine Aschenkegel beschreibt noch ein, zwei orangefarbene Bögen -fertig. Du sitzt und beobachtest, halb ihnen zugewandt, dein schmutziger, kleiner Liebling beginnt im Schlaf zu maulen, und wieder ist alles vergebens: wie könnte dein Verlangen sich ins gleiche Bild fügen, zusammen mit so vielen, so endlosen Abschieden? Tausend Kinder schleppen sich hinaus durch diese Türen heute nacht, doch nur in seltenen Nächten kommt einmal eins herein, wenigstens eins, nach Hause zu deinem zersprungenen, spermastarren Bett, dem Wind über den Gaskesseln, den näheren Gerüchen nach Schimmel auf feuchtem Kaffeesatz, nach Katzenscheiße, nach hellen Pullovern, in eine Ecke gehäuft zu zufälligen Figuren, Verwurf oder Umarmung. Diese wortlose, gezähnte Schlange der Wartenden...Tausende, die fortgehen ... und nur ein einzelnes, verirrtes, verwirrtes Bruchstück treibt der Zufall gegen den Strom...
    Das einzige, was sich Pointsman zur Zeit für alle seine Krämpfe gutschreiben kann, ist ein Krake - ja, ein gigantischer Oktopus, wie frisch aus einem Horrorfilm, mit Namen Grigori: grau, schleimig, immer in Bewegung, zittert er in Zeitlupe durch sein provisorisches Ställchen unten an der Mole von Ick Regis... eine steife Brise damals vom Kanal, Pointsman hinter seiner gestrickten Sturmhaube, die Augen tränend vor Kälte, Dr. Porkjewitsch mit aufgestelltem Mantelkragen und der Pelzmütze tief über den Ohren, beider Atem faulig von stundenaltem Fisch, und was zum Teufel soll Pointsman mit diesem Vieh anfangen?
    Schon wächst, ganz aus sich selbst, die Antwort heran, eben

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