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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Gleichung nur für Engel, Roger? Warum können wir hier unten nichts tun? Gibt's denn keine Formel für uns hier, mit der wir einen sichereren Platz finden könnten?"
    "Warum nur", wieder ganz Verständnis heute, "habe ich es andauernd mit statistischen Analphabeten zu tun? Nein, mein Herz, es gibt keine Möglichkeit, nicht, solange die mittlere Einschlagdichte konstant bleibt. Aber Pointsman kapiert noch nicht mal das."
    Tatsächlich verteilen sich die Raketen genauso über London, wie es die Poissonsche Gleichung in den Lehrbüchern vorhersagt. Je mehr Daten eingehen, desto mehr steht Roger wie ein Prophet da. Die Kollegen von der Psi-Sektion starren ihm schon auf dem Gang nach. Dabei hat es gar nichts mit Hellsehen zu tun - am liebsten würde er das in der Kantine öffentlich ausrufen... habe ich jemals vorgetäuscht, etwas zu sein, das ich nicht bin? Ich tue nichts weiter, als Zahlen in eine altbekannte Gleichung einzusetzen, ihr könnt das im Lehrbuch nachlesen und selber genausogut machen...
    Sein kleines Büro wird jetzt von einer glitzernden Karte beherrscht, einem Fenster, das sich auf eine andere Landschaft als das winterliche Sussex öffnet: geschriebene Namen im Spinnennetz von Straßen, ein Tintengespenst von London, aufgeteilt in 576 Planquadrate, jedes einen viertel Quadratkilometer groß. Rote Kreise kennzeichnen die Einschlagstellen der Raketen. Die Poissonsche Verteilungsgleichung gibt nun für eine beliebig gewählte Gesamtzahl von Einschlägen an, wie viele Quadrate überhaupt nicht, wie viele einmal, wie viele zweimal, dreimal und so weiter getroffen werden.
    Ein Erlenmeyer-Kolben blubbert auf seinem Ring. Blaues Licht fließt in hastigen Verschlingungen durch die quellende Flüssigkeit im Glas. Billig broschierte alte Formelsammlungen und mathematische Aufsätze liegen auf Schreibtisch und Fußboden verstreut. Hinter Rogers alter Whittaker and Watson blinzelt ein Schnappschuß von Jessica hervor. Der ergrauende Pawlowianer, wie jeden Morgen nadeldünn und steifen Schrittes unterwegs in sein Labor, wo Hunde mit bloßgelegten Wangen auf ihn warten und aus sauber geöffneten Fisteln wintrigsilberne Tropfen in Wachsschalen und Meßröhrchen absondern, unterbricht seinen Gang vor Mexicos offener Tür. Die Luft dahinter ist blau von gerauchten und später, in fröstelndschwarzen Morgenschichten, als Stummel noch einmal gerauchten Zigaretten. Es riecht abgestanden und widerwärtig. Trotzdem - er muß hinein und der gewohnten morgendlichen Tasse gefaßt ins Auge sehen.
    Sie wissen beide, wie merkwürdig ihre Zusammenarbeit auf die anderen wirken muß. Wenn jemals ein Anti-Pointsman existiert hat, dann in Gestalt von Roger Mexico. Weniger, das räumt der Doktor ein, wegen der esoterischen Forschungen. Der junge Statistiker ist den Zahlen und der Methodik ergeben, nicht dem Tischrücken oder dem Wunschdenken. Aber im Bereich von Null zu Eins, von Nicht-Etwas zu Etwas, kann Pointsman nur die Null und die Eins besitzen. Er kann nicht, wie Mexico, an jedem Ort dazwischen leben. Genau wie sein Meister I. P. Pawlow vor ihm, stellt er sich die Großhirnrinde als Mosaik aus winzigen Ein/Aus-Elementen vor. Stets sind einige in heller Erregung, andere dunkel verstummt. Die Konturen, hell und dunkel, wechseln ständig. Doch jeder einzelne Punkt kann nur einen dieser beiden Zustände annehmen: Wachen oder Schlaf. Eins oder Null. "Summierung", "Transition", "Irradiation", "Konzentration", "gegenseitige Induktion" - die ganze Pawlowsche Hirnmechanik basiert auf der Annahme solcher bistabilen Punkte. Zu Mexico jedoch gehört die Domäne zwischen Null und Eins, die Mitte, die Pointsman aus seinem Weltbild ausgeschlossen hat - die Wahrscheinlichkeiten. Eine Wahrscheinlichkeit von 0,37, daß bis zu dem Zeitpunkt, da er zu zählen aufhört, ein gegebenes Quadrat nur einen Treffer abbekommen hat, 0,17, daß es zwei sind ...
    "Können Sie denn nicht... genauer sagen", Pointsman bietet Mexico eine Kyprinos Orient aus einer der Geheimtaschen an, die in alle seine Laborkittel eingenäht sind, "mit Hilfe Ihrer Karte hier, welche Orte am sichersten wären, am sichersten vor Raketenangriffen?" "Nein."
    "Aber Sie könnten doch-"
    "Jedes Quadrat hat die gleiche Chance, erneut getroffen zu werden. Die Einschläge häufen sich nirgends. Die mittlere Dichte bleibt konstant."
    Nichts auf der Karte könnte ihn widerlegen: Eine klassische Poisson-Verteilung, gelassen und sauber über die Quadrate gesiebt, ganz wie es sich gehört ... der

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