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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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von Rom, und seine Seele ist die Rakete. Eine I. G. Raketen. Zirkushelle, plakatknalliges Rot und Gelb, mehr Manegen, als man überblicken kann, alle gleichzeitig bespielt. Der würdevolle Finger wirbelt zwischen ihnen herum. Tschitscherin hat keine Zweifel mehr. Weniger, weil er auf seinen Fahrten durch die Zone offensichtliche Beweise gesehen hätte, als auf Grund des persönlichen Verhängnisses, von dem er weiß, daß es ihn überall verfolgt - stets am äußeren Rand von Offenbarungen festgehalten zu werden. Zum erstenmal geschah es ihm vor dem Kirgisischen Licht, als seine einzige Erleuchtung die Erkenntnis war, daß seine Furcht ihn immer daran hindern würde, den Weg zum Zentrum zu vollenden. Er wird nie weiter vordringen als bis zum äußeren Rand dieses MetaKartells, das sich ihm heute nacht gezeigt hat - jenes Raketenstaates, dessen Grenzen ihm verschlossen bleiben ...
    Er wird das Licht verfehlen, gut, aber nicht den Finger. Traurig hur, daß alle anderen Bescheid zu wissen scheinen. Alle die Ausputzer, die so wie er durch die Zone jagen, stehen im Dienst der I.G. Raketen. Alle außer ihm und Enzian. Seinem Bruder Enzian. Kein Wunder, daß sie hinter dem Schwarzkommando her sind... und ... Und wenn sie rauskriegen, daß ich nicht der bin, für den sie mich halten? Und weshalb schaut mich Marvy jetzt so an, warum kriegt er diese Stielaugen ... nein, nur keine Panik, gib seinem Irrsinn nicht noch Nahrung, er ist knapp vor der Grenze zum...
    [3.28] Plechazunga
    Nach Cuxhaven, während der Sommer sich verlangsamt, weiterdriften nach Cuxhaven. Die Wiesen summen. Regen prasselt in sichelförmigen Schlägen durch das Schilf. Schafe und selten ein paar dunkle Nordhirsche steigen herab zum Wasser und weiden Tang und Seegras von einem Strand, der weder ganz Meer ist noch ganz Sand, von der Sonne in dunstiger Mehrdeutigkeit gehalten ... So treibt Slothrop dahin, getragen, schwebend auf den Wasserauen. Wie Signale, die für verirrte Reisende gesetzt sind, wiederholen sich vor seinen Augen Formen, Muster der Zone, die er in sich eindringen läßt, aber nicht mehr deutet, jetzt nicht mehr. Was keinen Unterschied machen wird. Die beständigsten unter diesen Formen, die immer dann aufzutauchen scheinen, wenn der Tag am unwirklichsten ist, sind die Treppengiebel, die die Fassaden von so vielen dieser alten norddeutschen Häuser krönen - sie tauchen aus den flachen, sehr niedrigen Horizonten ins Gegenlicht in einem seltsam feuchten Grau, als ob sie eben aus dem Wasser aufgestiegen wären. Sie halten ihre Form, sie überdauern: Monumente der Analysis. Vor dreihundert Jahren lernten die Mathematiker, den Aufstieg und Fall der Kanonenkugel in Treppenstufen aus Weite und Höhe zu unterteilen, dx und dy, Stufen, die sie kleiner und kleiner werden ließen, immer dichter gegen die Null, während Heerscharen von ewig schrumpfenden Zwergen über die Treppe hinauf- und hinuntergaloppierten und das Getrappel ihrer immer winzigeren Füße gleichmäßiger wurde, sanfter und endlich ein kontinuierlicher Klang. Unverändert ist dieses analytische Vermächtnis durch die Zeit gereicht worden - bis nach Peenemünde, wo es den Technikern die Askania-Filme der Raketenflüge bescherte, die sie anglotzten, Kader um Kader, dx um dy, ohne davon das Fliegen selbst zu lernen ... Film und Kalkül, Pornographien des Fluges beide... Als Mahnungen an Impotenz und Abstraktion erscheinen jetzt die steinernen Gestalten dieser Giebel, heil und beschädigt, über den grünen Ebenen, bleiben für eine Weile sichtbar und verschwinden: in ihrem Schatten spielen Kinder, deren Haar wie Heu ist, Himmel und Hölle, hüpfen in kleiner und größer werdenden Schritten übers Dorfpflaster, von Himmel zu Hölle zu Himmel, lassen Slothrop manchmal eine Runde mitspielen, laufen manchmal vor ihm weg, hinein in ihre dunklen Gassen, die überwölbt sind von den alten Häusern, die sich vielfenstrig und sorgenvoll einander zuneigen und sich oben fast berühren, wo vom Himmel nur noch ein milchiger Faden sichtbar bleibt.
    Zur Dämmerstunde laufen die Kinder mit runden Papierlampions durch die Straßen und singen Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne... Lichtkugeln in dörflichen Abenden, bleich wie Seelen, Gesang, der wieder einem Sommer Lebewohl sagt. In einer Küstenstadt bei Wismar umringen sie Slothrop, der sich gerade in einem kleinen Park zum Schlafen einrichtet, und erzählen ihm die Geschichte von Plechazunga, dem Schweinehelden, der irgendwann im 10. Jahrhundert

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