Die Enden der Parabel
wissen scheinen, wo sie sich überhaupt befinden, frisch importiert aus einem Ort, wo es sehr kalt ist und sehr weit im Osten. Sie flanken von ihren Ladepritschen und laufen in die Arena ein wie Fußballspieler, formieren sich zu einer Reihe und beginnen, die Straße zu räumen, indem sie die Menge gegen das Ufer zurückdrängen. Slothrop steckt mittendrin, wird stolpernd nach hinten geschoben, hat unter seiner Schweinemaske nur das halbe Sichtfeld und versucht zu decken, wen er kann - ein paar Kinder, eine alte Dame, die vorhin Baumwolle am laufenden Meter verhökert hat. Die ersten Knüppelhiebe treffen ihn in die Strohpolsterung über seinem Bauch und machen nicht viel Eindruck. Rechts und links von ihm gehen Menschen zu Boden, doch Plechazunga hält stand. Ist der Morgen etwa nur eine Kostümprobe gewesen? Erwartet man von Slothrop, daß er jetzt echte fremdländische Invasoren zurückschlägt? "Schweineheld!" kräht ein winzig kleines Mädchen mit vertrauensvoller Stimme und klammert sich an sein Bein. Ein ergrauter alter Bulle, dem die fetten Jahre und die Bestechungsgelder der Heimatfront ins Gesicht geschrieben stehen, holt aus und schwingt den Knüppel gegen Slothrops Kopf. Plechazunga duckt ab und tritt mit seinem freien Bein. Als der Bulle einknickt, springen ihn ein halbes Dutzend Bürger an, reißen ihm Tschako und Knüppel weg. Tränen sickern, eingefangen von der Sonne, aus seinen verwitterten Augen. Dann sind plötzlich von irgendwo Schüsse zu hören, alles gerät in Panik, Slothrop wird halb umgeworfen und das Kind von seinem Bein weggerissen, es verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Gewühl.
Raus aus der Straße, rauf auf den Kai. Die Polizisten haben mit dem Prügeln aufgehört und klauben jetzt ihre Beute von der Straße, aber inzwischen sind die Russen herangekommen, und unter denen gibt's genug, die geradewegs auf Slothrop starren. Vorsehungshalber taucht eins der beiden Mädchen aus dem Cafe auf, packt ihn bei der Hand und zerrt ihn mit sich fort. "Sie haben einen Haftbefehl für dich."
"Einen was? Es läuft doch ohne den Papierkram auch ganz gut."
"Die Russen haben deine Uniform gefunden. Sie halten dich für einen Deserteur."
"Damit liegen sie richtig."
Sie nimmt Slothrop in seinem Schweineanzug mit zu sich nach Hause. Ihren Namen erfährt er nie. Sie ist etwa siebzehn, blond, ein junges, verletzliches Gesicht. Hinter einem spermavergilbten Laken, das von der Zimmerdecke hängt, liegen sie eng anein-andergedrückt auf einem schmalen Bett, dessen Pfosten mit Lackarbeiten verziert sind. Draußen in der Küche schält ihre Mutter Rüben. Die beiden Herzen hämmern - seins wegen der Gefahr, ihres seinetwegen. Sie erzählt vom Leben ihrer Eltern, ihr Vater war Buchdrucker, er heiratete während seiner Gesellenzeit, und seine Wanderjahre gehen jetzt schon ins zehnte. Keine Nachricht über seinen Aufenthalt seit 1942, als ein Brief aus Neukölln kam, wo er bei einem Freund übernachtet hatte. Immer waren es Freunde, Gott allein mag wissen, in wie vielen
Hinterzimmern, Schuppen, Druckereien er seine einsamen Nächte verbracht hat, zitternd mit alten Ausgaben der Welt am Montag zugedeckt, immer sicher, zumindest ein Dach über den Kopf zu kriegen, wie jeder vom Buchdruckerverband, manchmal auch eine Mahlzeit und beinahe immer Ärger mit der Polizei, wenn er irgendwo zu lange blieb - es war eine gute Gewerkschaft. Sie hielt die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung hoch, ließ sich nicht von Hitler unterbuttern, auch nicht, als alle anderen Gewerkschaften längst gleichgeschaltet waren. Es berührt Sloth-rops eigene, puritanische Hoffnung auf das Wort, das Wort, das Druckerschwärze wurde, das mit Antikörpern und nach Blei riechendem Atem im Blut eines tapferen Mannes wohnt, obgleich die Welt für ihn immer die Welt am Montag sein wird, hinwegschnitzelnd mit ihrer kalten Schneide alle kümmerlichen Illusionen von Behaglichkeit, die der Bourgeois mit Sicherheit verwechselt... hat er Flugblätter gedruckt gegen den Irrsinn seines Lebens? Ist er gekascht, mißhandelt, getötet worden? Sie hat einen Schnappschuß von ihm, aus der Sommerfrische, irgendwas Bayerisches, Wasserbefalltes, Weißgischtiges, ein braungebranntes und altersloses Gesicht, Tirolerhut, Hosenträger, die Füße für immer so gesetzt, als sei er im Begriff, davonzulaufen: das Photo konservierte und bewahrte ihn auf die eine Art, in der er ihnen blieb, stets auf der Flucht, von Versteck zu Versteck durch alle seine kalten,
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