Die Enden der Parabel
bringt in jedem Fall Wein satt, einen Taumel von Wein, Fuder um Fuder und Faß um Faß in einer rumpelnden Landprozession durch die sandigen Straßen, wo immer sich die Säufer Selbdritt auch befinden. Nie fällt es jemandem ein, zu fragen, was wohl Frank Sinatra in Begleitung dieses Pärchens von verwüsteten Halbleichen verloren hat. Keiner bezweifelt auch nur für eine Minute, daß es Sinatra ist. Die Gewitzteren auf dem Dorfe halten die beiden anderen normalerweise für ein Komiker-Duo. Während die Edlen in ihren nächtlichen Ketten schmachten, singen die Schildknappen. Die furchtbare Politik des Grals kann sie nicht berühren. Gesang ist der Zaubermantel. Tschitscherin begreift, daß er nun endlich allein ist. Was immer ihn finden wird, es wird ihn alleine finden.
Er fühlt sich verpflichtet, in Bewegung zu bleiben, obgleich es keinen Ort gibt, wohin er gehen könnte. Jetzt holt ihn, viel zu spät, die Erinnerung an Wimpe ein, den V-Mann von der I.G. Farben aus einer lang vergangenen Zeit. Jetzt folgt sie ihm, auf seiner Flucht. Tschitscherin hatte gehofft, er würde einen Hund finden. Ein Hund wäre ideal gewesen, eine vollkommene Aufrichtigkeit, an der er seine eigene hätte messen können, Tag für Tag, bis zum Schluß. Es wäre gut gewesen, einen Hund bei sich zu haben. Aber das zweitbeste ist vielleicht ein Albatros, dem kein Fluch anhaftet: eine freundliche Erinnerung.
Der junge Tschitscherin war es, der zuerst auf die "Politik der Betäubungsmittel" kam: Opiate fürs Volk.
Wimpe lächelte. Ein uraltes Lächeln, das noch den lebenden Glutkern der Erde abgekühlt hätte. "Und die marxistische Dialektik? Das soll kein Opiat sein?" "Sie ist das Gegengift."
"Nein." Es kann in beide Richtungen laufen. Der Drogenhändler mag informiert sein über alles, was Tschitscherin je zustoßen wird, und er mag entscheiden, daß es keinen Sinn hat -oder gerade, aus einer Laune heraus, dem jungen Narren seinen Weg vorzeichnen.
"Die Grundfrage", schlägt er vor, "war immer, wie man andere Menschen dazu bringt, für einen zu sterben. Was ist einem Menschen teuer genug, um ihn mit seinem Leben dafür bezahlen zu lassen? Und genau hier war die Religion im Vorteil, jahrhundertelang. Die Religion handelte immer vom Tod. Sie wurde nicht zur Betäubung eingesetzt, sondern eigentlich als Werkzeug - sie brachte die Leute dazu, für eine bestimmte Kollektion von Ansichten über den Tod zu sterben. Pervers, natürlich, aber wer sind wir, um darüber zu richten? Es war ein guter Trick, solange er funktionierte. Aber seit es unmöglich geworden ist, für den
Tod in den Tod zu gehen, haben wir eine weltliche Version -eure. Sterben, um die
Geschichte voranzubringen, auf ihrem Weg zum vorbestimmten Stadium. Sterben in
dem Bewußtsein, daß dieser Akt der guten Sache ein Stück weiterhilft.
Revolutionärer Selbstmord, prima. Aber jetzt schau: wenn die Wandlungen der
Geschichte unausweichlich sind - warum dann nicht nicht sterben? Wjatscheslaw?
Wenn ohnehin alles kommt, wie's kommen muß, was macht's dann aus?"
"Aber Sie haben noch nie vor dieser Wahl gestanden, oder?"
"Wenn ich sie je getroffen habe, dann kannst du sicher sein -"
"Sie wissen es nicht, nicht bis es soweit ist, Wimpe. Sie können es nicht sagen."
"Das klingt nicht besonders dialektisch."
"Ich weiß nicht, was es ist." "Bis unmittelbar zum Punkt der Entscheidung also", Wimpe neugierig, aber
bedächtig, "könnte ein Mensch sich vollkommen rein halten... "
"Er könnte alles mögliche, mir ist das gleich. Aber nur an den Punkten der
Entscheidung selbst ist er absolut. Die Zeit dazwischen zählt nicht."
"Absolut für einen Marxisten."
"Nein. Für sich selber."
Wimpe blickt skeptisch.
"Ich weiß, wovon ich rede. Sie wissen es nicht."
Schh, schh. Eine Injektionsspritze, eine 26er Nadel. Zweierlei Blut gerinnt in der braungetäfelten Hotelsuite. Die Diskussion fortzusetzen oder abzuwürgen'würde sie in eine Feindschaft aus Wörtern führen, und das wollen sie beide nicht. Oneirin Theophosphat ist eine Möglichkeit, das Problem zu umgehen. (Tschitscherin: "Sie meinen Thiophosphat, nicht wahr?" Denkt: als Zeichen der Anwesenheit von Schwefel.. .Wimpe: "Ich meine Theophosphat, Wjatscheslaw", als Zeichen der Anwesenheit von Gott.) Sie drücken: Wimpe mit einem nervösen Blick auf den Wasserhahn, mit Gedanken an Tschaikowski, Salmonellen, ein rasches Medley von pfeifbaren Melodien aus der Pathetique im Ohr. Tschitscherin aber hat nur Augen für die Nadel, ihre
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