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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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liefern.
    "Ich bin hier, um dir Klarheit zu verschaffen. Wenn du irgendwelche Zweifel hast, sollten wir sieauf den Tisch legen, ganz unter uns. Keine Repressionen. Verdammt noch mal, du wirst doch nicht glauben wollen, daß ich nicht ebenfalls meine Zweifel gehabt hätte. Selbst Stalin hat sie gehabt. Wir alle haben sie." "Ist ja schon gut. Es ist nichts, womit ich nicht fertig würde."
    "Aber du wirst nicht damit fertig, sonst hätte man mich nicht geschickt. Glaubst du, sie wissen nicht, wenn einer, der ihnen am Herzen liegt, in Schwierigkeiten steckt?" Tschitscherin möchte die Frage nicht stellen. Die Muskeln seines Herzkäfigs kämpfen gegen sie an. Der Schmerz des Nerven-flimmerns pocht durch seinen linken Arm. Dann stellt er sie und spürt, wie sich sein Atmen leicht verschiebt: "War ich zum Sterben vorgesehen?" "Wann, Wjatscheslaw?" "Im Krieg." "Oh, Wjatscheslaw."
    "Du wolltest hören, was mich beunruhigt."
    "Aber begreifst du nicht, wie sie das aufnehmen werden? Los, spuck schon alles aus. Wir haben zwanzig Millionen Seelen verloren, Wjatscheslaw. Es ist ein Vorwurf, den du nicht leichtfertig erheben kannst. Sie würden Belege verlangen. Sogar dein Leben könnte in Gefahr sein -"
    "Ich mache niemandem einen Vorwurf ... bitte nicht... ich möchte nur wissen, ob es vorgesehen war, daß ich für sie sterbe."
    "Niemand will, daß du stirbst." Zur Beruhigung. "Wie kommst du darauf?" So zieht er es ihm aus der Nase, der geduldige Gesandte, Wimmern und Verzweiflung und viel zu viele Worte - paranoische Verdächtigungen, unstillbare Ängste, die ihn verurteilen, die die Mauer wachsen lassen, welche ihn für immer von der Gemeinschaft trennen wird...
    "Und doch ist dies das eigentliche Herz der Geschichte", die sanfte Stimme spricht durch Zwielicht, keiner der beiden Männer ist aufgestanden, um eine Lampe
    anzuzünden, "ihr innerstes Herz. Wie könnte all das, was du von ihr weißt, was du gesehen und berührt hast, von einer Lüge genährt werden?" "Aber das Leben nach dem Tod ... " "Es gibt kein Leben nach dem Tod."
    Was Tschitscherin sagen will, ist, daß er kämpfen mußte, um an seine Sterblichkeit glauben zu können. Genau wie sein Körper kämpfte, um seinen Stahl anzunehmen. Daß er alle seine Hoffnungen niederkämpfen mußte, um sich eine Bresche zu der bittersten der Freiheiten zu schlagen. Es ist nicht lange her, daß er begonnen hat, im dialektischen Ballett von Macht und Gegenmacht, Zusammenstoß und neuer Ordnung Trost zu suchen -das kam erst mit dem Krieg, erst als der Tod in den Ring stieg, er ihm nach jahrelangem Training zum erstenmal gegenüberstand: größer schien er ihm, eleganter und sparsamer in der Bewegung, mit einem schöneren Muskelspiel, als er es je erwartet hatte - erst im Ring, als er die fürchterliche Kälte fühlte bei jedem Schlag, erst damals wandte er sich einer Theorie der Geschichte zu -ausgerechnet, unter allen pathetisch kalten Tröstungen -, um seinem Gegner in den Seilen einen Sinn abzunehmen.
    "Die Amerikaner sagen: Du hast nie den Glauben gehabt, Wjatscheslaw. Du hast einfach eine Bekehrung auf dem Totenbett erlebt, aus Angst." "Ist das der Grund, weshalb ihr mich jetzt tot sehen wollt?"
    "Nicht tot. Du kannst uns nicht viel nützen, wenn du tot bist." Zwei weitere Agenten in olivgrünem Drillich haben den Raum betreten, beobachten Tschitscherin. Ihre Gesichter sind ebenmäßig, durchschnittlich. Schließlich ist das eine Oneirin-Heimsuchung. Der einzige Hinweis auf ihre Unwirklichkeit ist-Die radikale-wenn-auch-plausible-Vergewaltigung-der-Realität -Alle drei Männer lächeln ihn jetzt an. Da ist keine Vergewaltigung. Es ist ein Schrei, aber er dringt als Brüllen aus seinem Mund. Er springt Ripow an, streckt ihn auch fast mit der Faust nieder, doch die beiden anderen, mit schnelleren Reflexen als geahnt, sind schon an seiner Seite, um ihn festzuhalten. Durch die Nerven in Hüfte und Hintern fühlt er, wie seine Nagant aus dem Halfter, und fühlt gleichzeitig, wie sein Schwanz aus einem deutschen Mädchen gleitet, an das er sich nicht mehr erinnern kann, am letzten weinsüßen Morgen, den er bei ihr verbrachte, im letzten warmen Bett des letzten morgendlichen Abschieds... "Du bist ein Kind, Wjatscheslaw. Das glauben machen will, es verstünde Ideen, die in Wirklichkeit über seinen Horizont gehen. Wir müssen sehr einfach sprechen für dich." In Zentralasien hatte man ihm von den Aufgaben der moslemischen Engel erzählt. Eine besteht darin, die Jüngstverstorbenen zu

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