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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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prüfen. Sobald der letzte Trauernde gegangen ist, treten Engel an das Grab und befragen den Verstorbenen über seinen Glauben...
    Jetzt ist noch eine andere Gestalt im Raum, dort in der Ecke. Eine Frau in Tschitscherins Alter, in Uniform. Ihre Augen wollen ihm nichts sagen. Sie beobachtet nur. Keine Musik, kein Ausritt im Sommer ... keine Pferdesilhouette in der Steppe vor dem späten Abendhimmel...
    Er erkennt sie nicht. Nicht, daß es darauf ankäme. Nicht bei diesem Stand der Dinge. Aber es ist Galina, die zurückgekehrt ist in die Städte, doch noch zurückgekehrt aus ihrem Schweigen in das Kettennetz der Wörter, das schimmernd-stetige, das immer nahe, immer handgreiflich genug ist...
    "Warum hast du deinen schwarzen Bruder gejagt?" Ripow schafft es, die Frage liebenswürdig klingen zu lassen.
    Oh. Nett von dir, das zu fragen, Ripow. Warum habe ich ?" Als es anfing... vor sehr langer Zeit, am Anfang... da glaubte ich, ich würde bestraft. Übergangen. Ich gab ihm die Schuld." "Und jetzt?"
    "Ich weiß es nicht."
    "Wie kamst du zu der Annahme, daß er dein Ziel wäre?" "Wessen Ziel sollte er sonst sein?"
    "Wjatscheslaw. Wirst du dich nie darüber erheben? Es ist finstere Barberei. Die Stimme des Blutes, persönliche Rache. Du glaubst wohl, daß das alles nur für dich allein arrangiert worden ist, damit ausgerechnet du dein dummes kleines Mütchen kühlen kannst."
    Schon gut, schon gut. "Ja. Wahrscheinlich. Und?" "Er ist nicht dein Ziel. Andere wollen ihn." "Also habt ihr mich die ganze Zeit -" "Bis jetzt. Genau."
    Dschabajew hätte es dir sagen können. Dieser aufgedunsene Asiate ist schließlich und vor allem ein einfacher Soldat. Er kannte sich aus. Offiziere. Die Scheiß-Offiziersmentalität. Du machst die ganze Dreckarbeit, und zum Schluß kommen sie und heimsen Ruhm und alles ein. "Ihr nehmt es mir also aus der Hand." "Du kannst nach Hause fahren."
    Tschitscherin hat die beiden anderen beobachtet. Jetzt erst sieht er, daß sie amerikanische Uniformen tragen und wahrscheinlich kein Wort verstanden haben. Er streckt seine leeren Hände aus, seine sonnenverbrannten Handgelenke, für eine letzte Stahlverarztung. Ripow, der sich gerade abwenden, gehen will, scheint überrascht. "Oh. Nein, nein. Du hast jetzt dreißig Tage Urlaub, den Urlaub für Überlebende. Du hast überlebt, Wjatscheslaw! Du wirst dich beim ZAGI melden und Bericht erstatten, sobald du nach Moskau kommst, das ist alles. Man wird dich zu einem neuen Einsatz kommandieren. Wir werden deutsche Raketenspezialisten in die Wüste schicken. Nach Zentralasien. Ich könnte mir vorstellen, daß sie dort draußen einen alten Kenner von Land und Leuten brauchen werden." Tschitscherin begreift, daß in seiner Dialektik, in der Entwicklung, die sein Leben nimmt, die Rückkehr nach Zentralasien den operationalen Tod bedeutet. Sie sind gegangen. Das eiserne Gesicht der Frau, das letzte, das den Raum verließ, hat sich nicht umgewandt. Er ist allein in einem ausgebrannten Zimmer, in dem die Zahnbürsten der Familie noch in ihren Haltern an der Wand hängen, geschmolzene Kunststoffranken, die sich in vielen Farben Richtung Erde winden, versengte Borsten, die auf all die schwarzen Flächen, Ecken und das rußblinde Fenster weisen.

[4.8] Norden

    Die teuerste Nation unter allen ist jene, die nicht länger überlebt als du und ich, eine gemeinsame Bewegung unter der Gewalt von Tod und Zeit: das Ad-hoc-Abenteuer. -Resolutionen der Grob-Säuglings-Konferenz
    Nach Norden? Welcher Suchende hat sich je nach Norden gewandt? Das, wonach
    man suchen soll, liegt südlich-die schwarzen Eingeborenen, stimmt's? In Sachen
    Risiko und Reibach schicken sie dich nach Westen, wenn's um Visionen geht, nach
    Osten. Aber was liegt im Norden?
    Die Fluchtroute der Anubis.
    Das Kirgisische Licht.
    Das Todesland der Hereros.
    Leutnant zur See Morituri, Carroll Eventyr, Thomas Gwen-hidwy und Roger Mexico sitzen um einen Tisch auf der roten Ziegelterrasse des Groben Säuglings, eines Gasthofs am Rande eines kleinen blauen Sees im Holsteinischen. Die Sonne läßt das Wasser funkeln. Die Dächer der Häuser sind rot, die Kirchtürme sind weiß. Alles ist klein, sauber und sanft pastoral, eingefaßt in den Gang der Jahreszeiten.
    Kreuzmuster aus kontrastierenden Hölzern auf den geschlossenen Türen. Eine Vorahnung von Herbst. Muhen einer Kuh, die Melkmagd furzt am Milchkübel, der mit einem sehr hellen Emailklang antwortet, und die Gänse honken und zischen. Die vier Abgesandten trinken

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