Die Enden der Parabel
aber der Mann nervt ihn.
"Selbstmord ist eine Freiheit, die selbst die Niedrigsten genießen. Aber du möchtest diese Freiheit einem ganzen Volk verwehren. "
"Keine Ideologie! Sag mir lieber, ob dein Freund Oururu den Sauerstoffgenerator transportfertig hat. Oder ob mir statt dessen eine fröhliche Überraschung bevorsteht in Hamburg."
"Na schön, keine Ideologie. Aber du würdest deinem Volk eine Freiheit vorenthalten, deren du selbst dich erfreust, Oberst Nguarorerue." Und wieder lächelt er wie der Geist des Mannes, der heute nacht gefallen ist, sucht nach einer dünnen Stelle, stichelt, reizt aus: was? Was ist es, Oberst, das du sagen willst? Erst als er die Müdigkeit in Enzians Zügen wahrnimmt, begreift er, daß es keine Verstellung ist. "Eine Freiheit", flüsternd, lächelnd, ein Liebeslied unter schwarzen, rundum in giftigem Orange gesäumten Himmeln, ein Werbespot voll von katharischem Entsetzen angesichts der Praxis, Seelen in den Kerker neugeborener Körper zu verbannen, "eine Freiheit, zu der du dich bald entschließen magst. Ich höre deine Seele sprechen im Schlaf. Ich kenne dich besser als jeder andere!" Katsch, katsch, o nein, ich mußte ihm die Wacheinteilung anvertrauen, oder? Was bin ich für ein Trottel. Es stimmt, er kann sich die Nacht aussuchen ... "Du bist eine Halluzination, Om-bindi", und er legt gerade genügend Panik in seine Stimme, um es, falls es nicht wirkt, wenigstens eine annehmbare Beleidigung sein zu lassen, "ich projiziere meinen Todeswunsch, und er erscheint in deiner Gestalt. Häßlicher, als ich mir's je geträumt hätte." Worauf er ihm das Weltraumfahrerlächeln zuwirft, volle dreißig Sekunden lang, obwohl Ombindi schon nach zehn Sekunden beginnt, seine Augen abzuwenden, zu schwitzen, die Lippen zusammenzupressen, auf den Boden zu schauen, sich umzudrehen, zurückzublicken, aber Enzian lächelt weiter, mitleidlos, keine Gnade heute nacht, mein Volk, das Weltraumfahrerlächeln taucht alles im Umkreis von einem Kilometer in gefrorene Eiskremfarben und JETZT, wo wir alle in der richtigen Stimmung sind, wie wär's jetzt, wenn wir die Tarnnetze der Batterie trotzdem ausbrächten, hm, Djuro? Genau, genau, Röntgenblick, hab sie geradewegs durch die Plane dort gesehen, schreib's auf als weiteres Wunder ... und du, Vlasta, du übernimmst die nächste Funkwache, vergiß, wer auf der Liste steht, aus Hamburg ist noch nie was andres als Routine eingetragen worden, und ich will wissen, weshalb, ich will wissen, was überhaupt so reinkommt, wenn Ombindis Leute Wache schieben... Der Funkverkehr auf der Kommandofrequenz des Trecks wird in einem Morsecode abgewickelt, Punkte und Striche - keine Stimmen, die man identifizieren könnte. Doch die Funker schwören, daß sie die Hände an den Tasten unterscheiden können. Vlasta ist eine seiner besten Funkerinnen, und sie kann den Morserhythmus der meisten von Ombindis Leuten täuschend imitieren. Hat sie sich eingeübt, nur vorsichtshalber...
Die andern, die sich schon seit langem fragen, ob Enzian wohl jemals gegen Ombindi vorgehen werde, lesen es jetzt aus seinem Gesichtsausdruck, aus seinem Gang-so daß es nur noch flüchtige Gesten braucht, ein kurzes Antippen seines Mützenrandes, Plan Nr. soundso signalisierend, um die Parteigänger Ombindis geräuschlos und ohne Gewaltanwendung von allen Wachepflichten dieser Nacht zu befreien. Waffen und Munition läßt man ihnen, wie schon immer. Es gibt keinen Grund, sie ihnen wegzunehmen: Enzian ist jetzt um keinen Deut verletzlicher als früher, und das war niemals wenig.
Der fette Knabe Ludwig ist ein weißes Glühwürmchen im Nebel. Sein Spiel besteht darin, daß er als Kundschafter für eine riesige weiße Armee arbeitet, die immer an seiner anderen Flanke lauert, bereit, auf ein Signal von ihm von ihrer Höhe herabzustürmen und die Schwarzen in den Erdboden zu schmieren. Aber er wird sie niemals herunterrufen. Er wird lieber mit dem Treck ziehen, unsichtbar. Dort unten gibt's keine Prostitution für ihn. Ihre Reise schließt ihn nicht mit ein. Sie haben ein Ziel, das sie erreichen müssen. Er spürt, daß er mit ihnen gehen muß, aber getrennt, als Fremder, nicht mehr, nicht weniger als sie der Gnade der Zone ausgeliefert...
[4.11] Tchitcherin, Geli, Enzian
Es ist eine Brücke über einen Fluß. Nur sehr selten kommt oben einmal Verkehr durch. Wenn man hinaufschaut, sieht man eine dunkle Steilwand aus zapfentragenden Bäumen, die von der Straßenflanke zurückweicht. Stämme und Äste
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