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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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ein Schritt in Richtung Unschuld. Die Dealer schieben heute nacht alle ein wenig verhaltener, und der sentimentale Bodine glaubt, das liege daran, daß sie seinem Lied lauschen. Vielleicht tun sie's ja wirklich. Ballen frischer Cocablätter, soeben aus den Anden eingetroffen, verwandeln das Lokal in ein summendes lateinamerikanisches Lagerhaus am Vorabend einer Revolution, die niemals näher kommen wird als der Rauch, der den Himmel über den Zuckerrohrfeldern beschmutzt, manchmal, vom Spitzenvorhang der langen Fensternachmittage aus gesehen... Straßenjungen ziehen eine Heinzelmännchennummer ab, wickeln Betelnüsse in die Cocablätter, um kompakte kleine Kaupakete draus zu machen. Ihre geröteten Finger sind lebende Funken im Schatten. Seaman Bodine hebt plötzlich den Kopf, sein ruhiges, unrasiertes Gesicht brennt von dem Rauch, von der Achtlosigkeit im Raum. Er blickt direkt auf Slothrop (als einer der wenigen, die Slothrop überhaupt noch in irgendeiner Form als einheitliches Wesen wahrzunehmen vermögen. Die meisten anderen haben den Versuch, ihn noch zusammenzuhalten, und sei's nur als Konzept, längst aufgegeben - "Das ist einfach alles zu weit draußen", sagen sie normalerweise zur Erklärung). Spürt Bodine jetzt, daß vielleicht auch seine Stärke bald nicht mehr genügen wird - daß er, wie alle anderen, vielleicht schon bald gezwungen sein wird, loszulassen? Aber einer muß doch dran-bleiben, es kann doch nicht allen von uns so ergehen, nein, das wäre zuviel... Rocketman, Rocketman. Du armer Scheißer.
    "Hier. Hör zu. Ich möchte, daß du es nimmst. Verstehst du mich? Es gehört dir." Kann er überhaupt noch hören? Sieht er diesen Fetzen, diesen Fleck? "Weißt du, ich war dabei, damals in Chicago, wie sie ihm auflauerten. Ich war genau an dem Abend dort, eine Straße weiter vom Biograph, ich hab die Schüsse gehört und alles. Scheiße, ich war gerade erst Rekrut, ich dachte, das isses, was das Wort Freiheit meint, und so bin ich losgerannt, und mit mir halb Chicago. Heraus aus den Bars, aus Klos, aus Nebenstraßen, Frauen, die ihre Röcke hochrafften, damit sie schneller rennen konnten, Missus Krodobbly, die die große Depression versäuft und wartet, bis die Sonne wieder durchkommt, was soll ich dir sagen, meine halbe Abschlußklasse aus Great Lakes in blauen Ausgehuniformen mit den gleichen Bettfederabdrücken drauf wie bei mir, alte Nutten und pockennarbige Schwule, die aus dem Mund riechen wie ein Zugführerhandschuh von innen, alte Damen aus den Slums hinterm Schlachthof, kleine Mädchen aus den Kinos, denen der kalte Schweiß noch an den Schenkeln klebt, einfach alle waren zur Stelle. Sie zogen sich die Kleider aus, fetzten Schecks aus ihren Scheckbüchern, rissen sich gegenseitig ihre Zeitungen in Stücke, nur um irgendwas zu haben, womit sie John Dillingers Blut aufsaugen konnten. Wir führten uns auf wie die Wahnsinnigen. Die Agenten hielten uns nicht zurück. Sie standen einfach da, der Pulverrauch kräuselte noch aus den Mündungen, und daneben stürzten sich die Leute auf das Blut, das auf die Straße geflossen war. Vielleicht hab ich mitgemacht, ohne nachzudenken. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, was ich wirklich gebraucht haben muß ... wenn du mich überhaupt hörst... und deshalb geb ich es jetzt dir, okay? Der Fleck ist Dillingers Blut. Es war noch warm, als ich hinkam, sie wollen natürlich nicht, daß man ihn für mehr hält als einen gewöhnlichen Verbrechen ... aber sie denken mit dem Kopf wie mit dem Arsch ... er hat trotzdem getan, was er getan hat. Er ging hin und gab ihnen eins über den Schädel, mitten in der Toiletten-Intimität ihrer Banken. Wen kümmert's denn, was er gedacht hat, solange es ihn nur nicht störte? Und es kommt auch nicht drauf an, warum wir das hier machen, Rocky, stimmt's? Yeah, was wir brauchen, sind nicht die guten Gründe, sondern einfach die Gnade. Die physikalische Gnade, die alles am Ticken hält. Mut und Köpfchen, okay, aber ohne diese Gnade kannst du alles vergessen. Wirst du - hey, bitte! Hörst du mir zu ? Das Zeug hier funktioniert. Wirklich! Es hat bei mir funktioniert, aber ich bin jetzt raus aus dem Dumbo-Stadium, ich kann ohne das fliegen. Du aber, Rocky, du ..."
    Es war nicht ihr letztes Treffen, aber bei den späteren waren immer andere in der Nähe, wurden Stoffprobleme gewälzt, gab's gerade Streit wegen geplanter oder schon ausgeführter Gaunereien, und so geschah's, daß Bodine, wie er gefürchtet hatte, hilflos und voller

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