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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Schößen von Pointsmans Uniformmantel zerrt. Mit heiserem Geschrei fliegt eine Möwe quer über die vereiste Böschung. Über ihnen ragen die Kreidefelsen empor, kalt und gelassen wie der Tod. Frühe Barbaren Europas, die sich dicht genug unter diese Küste gewagt hatten, sahen diese weißen Barrieren durch den Nebel schimmern und wußten, wohin ihre Toten entführt worden waren.
    Pointsman hat sich umgewandt und ... o Gott. Er lächelt. Etwas so Urtümliches liegt in dieser angemaßten Brüderlichkeit, daß Roger - nicht jetzt, aber in wenigen Monaten, wenn Frühling sein wird und kein Krieg mehr in Europa - an dieses Lächeln denken wird, von ihm verfolgt werden wird als dem bösartigsten Ausdruck, den er jemals auf einem menschlichen Gesicht gesehen hat.
    Sie sind stehengeblieben. Roger starrt den anderen an. Den Anti-Mexico. "Begriffe des Gegensatzes", das sind sie selber, aber auf welcher Hirnrinde, auf welcher winterlichen Hemisphäre? Welchem zerfallenen Mosaik, das in die Wüste hinausstarrt ... weg von der schützenden Stadt... lesbar nur jenen, die draußen unterwegs sind ... Augen der Ferne ... Barbaren ... Reitern... "Wir haben Slothrop", hat Pointsman gerade gesagt. "Pointsman - was versprechen Sie sich davon? Außer Ruhm, meine ich." "Nicht mehr und nicht weniger als Pawlow selbst. Eine physiologische Grundlage für ein scheinbar unerklärliches Verhalten. Es ist mir völlig egal, in welche von euren P. R. S.-Kategorien es vielleicht paßt - seltsam genug, daß keiner von euch auch nur an Telepathie gedacht hat: Vielleicht ist er auf irgend jemand von der anderen Seite eingepegelt, einen, der die deutschen Schießpläne im voraus kennt? Und mir ist genauso egal, ob es sich vielleicht um eine schreckliche Freudsche Rache an seiner Mutter handelt, weil die ihn kastrieren wollte oder so was. Ich will nicht grandios sein, Mexico. Ich bin bescheiden, methodisch -" "Demütig."
    "Jedenfalls in meinen Grenzen. Ich habe als Ausgangspunkt nur die Umkehrung der Raketengeräusche... die Fallgeschichte seiner sexuellen Konditionierung, vielleicht auf auditive Reize,
    und das, was eine Umkehrung von Ursache und Wirkung sein könnte. Ich bin nicht so leicht bereit wie Sie, Ursache-und-Wirkung zum Abfall zu schmeißen, aber wenn das Konzept modifiziert werden müßte - mir sollte es recht sein." "Und wonach suchen Sie nun?"
    "Sie kennen sein MMPI? Seine F-Skala? Exzentrische Antworten, eine verzerrte Denkwelt ... das Profil zeigt es ganz deutlich: er neigt zu psychopathischen Abweichungen, zu Obsessionen, ein latenter Paranoiker- und Pawlow ging davon aus, daß Obsessionen und paranoide Zustände von gewissen - nun, nennen wir es Zellen, Neuronen auf dem Mosaik der Hirnrinde hervorgerufen werden, die so stark erregt sind, daß sie, durch gegenseitige Induktion, die sie umgebenden Zellen in einen Hemmungszustand versetzen. Ein heller, flammender Punkt, von Dunkelheit umgeben. Von Dunkelheit, die er sozusagen selbst erzeugt hat. Und dadurch ist er abgeschnitten, womöglich bis zum Lebensende des Patienten, von allen Gedanken, Empfindungen, Rückkoppelungen, die seine Flamme löschen, ihm den Normalzustand wiedergeben könnten. Pawlow nannte es einen . Gerade jetzt arbeiten wir mit einem Hund ... er ist durch die Phase gegangen, in der jeder Reiz, ob stark oder schwach, genau die gleiche Anzahl Speicheltropfen zum Fließen bringt... dann weiter durch die Phase, in der starke Reize schwache Reaktionen hervorrufen und umgekehrt. Gestern schließlich haben wir ihn darüber hinausgeführt. In die ultraparadoxe Phase. Wenn wir jetzt das Metronom einschalten, das bisher für stand und Wanja speicheln ließ wie einen Springbrunnen, dann wendet er sich ab. Aber wenn wir das Metronom wieder abstellen - oh, dann kommt er zurück, schnüffelt an ihm herum, versucht, es zu lecken und zu beißen: Er sucht in der Stille nach dem Reiz, der nicht mehr da ist. Pawlow nahm an, daß seelische Erkrankungen letzten Endes durch diese ultraparadoxe Phase erklärt werden können, durch die pathologisch trägen Punkte auf der Großhirnrinde, die Verwirrung des Begriffs vom Gegensatz.
    Er war gerade dabei, seine Theorie auf eine experimentelle Basis zu stellen, als er starb. Ich aber lebe. Ich habe die finanziellen Mittel, die Zeit und den Willen dazu. Slothrop ist dickfellig, nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Es wird nicht leicht sein, ihn in die drei Phasen zu versetzen. Möglicherweise müssen wir ihn aushungern, quälen, was weiß ich ...

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