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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Stößel pulverisiert er die Substanz und kippt den größten Teil in eine alte Huntley-&-Palmers-Keksdose. Das wenige, das er zurückbehält, rollt er mit flinken Fingern in ein Blatt Rizla-Süßholz-Zigarettenpapier, zündet es an und inhaliert den Rauch. Aber zufällig hat sie gerade in dem Augenblick hereingesehen, als Osbie den widerhallenden Ofen öffnete. Die Kamera registriert keinerlei Veränderung in ihrem Mienenspiel, doch warum steht sie nun so unbeweglich an der Tür? Als würde dieses Filmbild standkopiert, gedehnt zu einem starren Augenblick aus blitzendem und patiniertem Gold, Unschuld in mikroskopischer Verkleidung, ihr Ellenbogen leicht gebeugt, die Hand gegen die Wand gestützt, die Finger über die blaß orangefarbene Tapete ausgespreizt, als ob sie ihre eigene Haut berührte, in einer sinnenden Gebärde... Draußen prasselt Regen in kieselig gefrierenden
    Schnüren trist und unmerklich korrodierend gegen die mittelalterlichen Fenster, zieht einen Vorhang wie von Rauch über das jenseitige Ufer des Stroms. Diese Stadt mit all ihren bombenzerfleischten Meilen: dieses unentwirrbar verstrickte Opfer ... Haut aus glitzernden Schieferdächern, rußige Ziegelwucherungen um dunkle und erleuchtete Fenster, Millionen Öffnungen, und alle wehrlos vor der Schwermut dieses Wintertages. Der Regen unterspült, durchtränkt, füllt singend die Kanäle, die Stadt empfängt ihn, stemmt sich gegen ihn, in endlosem Achselzucken ... Mit einem Quietschen und einem metallischen Schlag wird der Ofen wieder zugeworfen, doch für Katje wird er sich niemals schließen. Zu oft schon hat sie heute vor den Spiegeln posiert, weiß genau, daß ihre Frisur und ihr Makeup vollkommen sind, bewundert das Kleid, das man bei Harvey Nicholls für sie besorgt hat, durchscheinender Chiffon, der von wattierten Schultern über ihre Brüste in einen tiefen, V-förmigen Ausschnitt zusammenfließt, satt kakaobraun, ein Farbton, den man hierzulande "Nigger" nennt, Meter um Meter geschmeidiger Seide in Kette und Schuß, locker gerafft um die Taille, in weichen Falten ausschwingend zum Knie. Der Kameramann ist begeistert von dem unerwarteten Effekt, den diese Fülle von fließendem Crepe hervorruft, vor allem dann, wenn Katje vor einem Fenster vorbeigeht und das
    Regenlicht den Stoff für kurze Augenblicke in dunkles Glas verwandelt, holzkohlentrüb, uralt und wetterblind: Kleid und Gesicht, Haar, Hände, schlanke Fesseln, alles wird Glas und Lasur, verharrt für einen Zelluloidmoment als lichtdurchströmter Hüter eines Regens, der seit Beginn des Tages von nahen und entfernten Raketenexplosionen erschüttert wird, absteigend, düster und vernichtend, der Hintergrund, der sie, für die Dauer dieser Einstellung, definiert. Beim Anblick ihres Spiegelbildes empfindet Katje ein ähnliches Vergnügen wie der Kameramann, aber sie weiß, was ihm verborgen bleiben muß: daß sie tief innen, hinter der soignierten Oberfläche aus teurem Stoff und toten Zellen, nur aus Verfall und Asche besteht: daß sie, auf eine grausame Weise, die niemand ahnt, dem Ofen gehört... dem Kinderofen... seine Zähne fallen ihr ein, lang, scheußlich, leuchtend braun von Fäulnis geädert, da er diese Worte spricht, die gelben Zähne von Hauptmann Blicero, das Geflecht von fleckigen Sprüngen, und tief in seinem Nachtatem, im finsteren Ofen seiner selbst, das verschlungene Geflüster der Verwesung... Immer denkt sie zuerst, vor allem anderen, an seine Zähne - würden nicht Zähne am direktesten vom Ofen profitieren: von dem, was ihr und Gottfried zugedacht ist? Er hat es niemals klar als Drohung ausgesprochen, auch keinem der beiden ins Gesicht gesagt, nur beiläufig zu Abendgästen, über Katjes mattschimmernde, dressierte Schenkel hinweg oder über Gottfrieds fügsam gebeugtes Rückgrat ("die Rom-Berlin-Achse" nannte er es in der Nacht, als der Italiener kam und sie es alle auf dem runden Bett trieben, Hauptmann Blicero in Gottfrieds hochgerecktes Arschloch rammelte und gleichzeitig der Italiener in seinen hübschen Mund ...), während Katje passiv blieb, gefesselt und geknebelt, mit angeklebten falschen Wimpern, nur menschliches Kissen diese Nacht für die ergrauenden, parfümierten Locken des Italieners (Rosen und Fett, das schon ranzig zu werden begann)... jeder Seufzer eine geschlossene Knospe, bereit, sich zu entfalten zu endloser Offenbarung (sie sieht eine mathematische Funktion, die sich gleich einer Blüte für sie öffnet, eine Potenzreihe, die nirgends

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