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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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natürlich kann es auch leichter abgehen. Aber ich werde seine Trägheitspunkte finden, ich werde herauskriegen, woraus sie bestehen, selbst wenn ich seinen verdammten Schädel dazu öffnen muß, und ich werde herausfinden, auf welche Weise sie isoliert sind, und vielleicht werde ich auch das Rätsel lösen, warum die Raketen so fallen und nicht anders - aber das soll, ehrlich gesagt, mehr ein Anreiz für Sie sein, mich zu unterstützen."
    "Wobei?" Fühlst dich ein wenig unbehaglich, Mexico, was? "Wozu brauchen Sie mich?"
    "Ich weiß es nicht. Aber so ist es eben." "Sie sind obsessiv."
    "Mexico!" Ganz still steht er da, die seeseitige Hälfte seines Gesichts plötzlich um fünfzig Jahre gealtert, und läßt drei Wellen hinter ihrem sterilen Eisfilm davonrollen. "Helfen Sie mir."
    Ich kann niemandem helfen, denkt Roger. Doch warum spürt er die Versuchung? Es ist gefährlich und infam. Aber er möchte helfen, ja. Er fühlt die gleiche, unnatürliche Furcht vor Slothrop wie Jessica. Was ist mit den Mädchen ... Es mag an der Einsamkeit liegen, die er in der Psi-Sektion empfindet, angesichts von Überzeugungen, die er weder aus vollem Herzen bejahen noch ganz verwerfen kann ... dieser Glaube, sogar beim niemals lächelnden Gloaming, daß da noch mehr sein muß, jenseits der Sinne, des Todes, jenseits der Wahrscheinlichkeiten, die alles sind, woran sich Roger klammern kann ... Oh, Jessie, sein Gesicht an ihrem nackten, schlafenden, so fein verknöchelten, durchsehnten Rücken, ich sehe nicht mehr durch
    Auf halbem Weg zwischen der Wassergrenze und dem groben Seegras sirrt der Wind in einer stacheldrahtbewehrten Rohrleitung, die parallel zum Ufer verläuft. Das schwarze Stahlgespinst ist an langen, schräg gebeugten Winkelträgern befestigt, Lanzen, die zur See hin weisen. Ein verlassenes und mathematisches Bild: entblößt bis auf die tragenden Vektoren, manchmal zu Doppelreihen aufgefaltet, in gegenläufiger Bewegung zurückweichend, als Mexico und Pointsman weitergehen, ein dichtes Moire gestauchter, vertikaler Balken in Parallaxe zu gestauchten Schrägen, während der Stacheldraht darunter mehr willkürlich dazwischenwirbelt. Am Horizont biegt die durchbrochene Mauer grau in den Dunst. Der Schneefall der vergangenen Nacht hatte jeden Zug der schwarzen Kritzelei weiß eingefaßt. Im Lauf des Tages aber haben Wind und Sand das dunkle Eisen wieder freigefegt, salzig, an manchen Stellen kurze Streifen Rost enthüllend ... an anderen überziehen Eis und Sonnenlicht die Konstruktion mit elektrischweißer Spannung.
    Weiter oben am Kliff, in einem Unterstand, der mit Netzen und Grasnarbe getarnt ist, jenseits des Minengürtels und der Panzersperren aus verwitterndem Beton, erholen sich der junge Dr. Bleagh und seine OP-Schwester von einer schwierigen Lobotomie. Seine blankgeschrubbten, routinierten Finger schnellen unter ihre Strumpfbänder, ziehen sie nach außen und lassen sie schallend zurückklatschen, von Bleaghschem hohoho begleitet, während sie aufhüpft und genauso lacht und darauf achtet, sich ihm nur knapp erfolglos zu entwinden. Sie liegen auf einem Bett aus ausgebleichten, alten Seekarten, Wartungshandbüchern, aufgeplatzten Sandsäcken und herausgeflossenem Sand, abgebrannten Streichhölzern und aufgedröselten Korkmundstücken von längst verfaulten Zigaretten, die einst geholfen haben, die Nächte von '41 zu überstehen und das jähe Herzklopfen, das einen damals bei jedem Lichtschein über dem Kanal befiel. "Du bist verrückt", flüstert sie. "Nein, geil", lächelt er und spannt schon wieder ihre Strapse, ein Junge mit seiner Schleuder. Oben im Hügelland spult sich eine Barriere aus Betonzylindern, die leisen Königstiger zu verkrüppeln, die nun nicht mehr über diesen Strand rollen werden, wie eine Kette weißer Laibe über die braunschwarzen Wiesen, zwischen Schneeflecken und bleichen Kalkaufbrüchen hindurch. Auf einem kleinen Weiher läuft der schwarze Mann aus London Schlittschuh, absurd wie ein Zuave, würdig und groß auf seinen Kufen, als wäre er für sie und Eis geboren, nicht für die Wüste. Kleine Dorfkinder umdrängen ihn gerade dicht genug, um bei jeder seiner Wendungen Eisstaub über die Wangen gepudert zu bekommen. Solange er nicht lächelt, schweigen sie ängstlich, folgen ihm, zupfen ihn, bändeln an, wollen das Lächeln, fürchten es, wollen es... Er hat ein Zaubergesicht, ein Gesicht, das sie kennen. Am Rand des Teiches stehen Myron Grunton und Edwin Treacle, rauchen ohne Pause,

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