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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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so gierig!" "Hm", mummelt er, "liegt wohl daran, daß wir's nicht komplizierter haben als Hershey-Schokolade... "
    "Oha, versuch mal das", kollert Darlene, hält sich den Hals und taumelt gegen ihn. "O Mann, das wird was geben", ungläubig greift er nach der unappetitlich aussehenden bräunlichen Neuheit, einer exakten Einszuvier-Replik einer Mills-Handgranate, Hebel, Zapfen, alles dran. Sie gehört zu einem ganzen Arsenal von patriotischem Naschwerk, das noch aus der Zeit vor der Zuckerrationierung stammt und neben der Granate, wie ein Blick ins Einmachglas zeigt, noch eine 0,455er Webley-Signalpatrone als grünrosa gestreifte Sahnekaramelle, eine Sechs-TonnenSprengbombe aus silbern gesprenkeltem blauem Gelee und eine Panzerfaust in Lakritze umfaßt.
    "Nun mach schon", greift Darlene doch buchstäblich nach seiner Hand, um ihm das Praline in den Mund zu stopfen.
    "Ich wollte erst mal den Anblick genießen, wie Mrs. Quoad eben sagte." "Und vorher zerdrücken gilt nicht, Tyrone!"
    Unter ihrer Tamarindenglasur entpuppt sich die Eierhandgranate als übersüßer, mit Pepsin aromatisierter Nougat, der mit stechendscharfen Kubebenbeeren gestopft ist und eine Füllung aus zähem Kampfergummi umschließt. Es ist unaussprechlich grauenhaft. Die Kampferdünste machen Slothrop schwindeln, Tränen strömen aus seinen Augen, seine Zunge ist ein hoffnungsloser Holokaust. Kubeben! Das Zeug hat
    er früher einmal geraucht! "Vergiftet..." kann er gerade noch krächzen.
    "Nun zeigen Sie doch ein wenig Rückgrat", befiehlt Mrs. Quoad.
    "Aber wirklich", flötet Darlene durch zungensanfte Karamelschichten hindurch, "denk
    daran, daß wir im Krieg stehen. Und jetzt dieses hier, Liebling, brav den Mund
    aufmachen ... "
    Zwar kann er durch die Tränenschleier kaum erkennen, was auf ihn zukommt, aber
    er hört Mrs. Quoads lüsternes "mnjam, mnjam, mnjam" jenseits des Tisches und
    diesseits Darlene kichern. Es ist groß und weich wie ein Marshmallow, aber
    irgendwie - wenn sein Gehirn jetzt nicht endgültig aussetzt- schmeckt es nach Gin.
    "Wasndas?" mampft er mühsam.
    "Ein Gin-Marshmallow eben", sagt Mrs. Quoad.
    "Auuuuu..."
    "Oh, das ist noch gar nichts, nehmen Sie mal eins von denen -" In einem masochistischen Reflex mahlen sich seine Zähne durch eine harte, säuerliche Stachelbeerhülle und treffen auf eine quellende Unannehmlichkeit aus, er hofft es ist Tapioka, leimigen Klümpchen von irgendwas, das mit Gewürznelkenpulver gesättigt ist.
    "Noch ein Schlückchen Tee?" schlägt Darlene vor. Slothrop windet sich in Hustenkrämpfen, nachdem ihm Gewürznelken in die Luftröhre geraten sind. "Scheußlicher Husten das!" Mrs. Quoad bietet ihm eine Dose mit der unglaublichsten aller englischen Hustenpastillen an, der Meggezone. "Darlene, dein Tee ist vorzüglich, ich kann richtig fühlen, wie mein Skorbut zurückgeht." Die Meggezone wirkt, als ob einem ein Schweizer Alp gegen den Kopf gedonnert würde. Sofort beginnen mentholene Eiszapfen vom Dach der Slothropschen Mundhöhle zu wachsen. Eisbären krallen sich in die verharschten Alveolentrauben seiner polaren Lungen. Sein Zahnschmelz schmerzt zu stark, als daß er noch atmen könnte, selbst durch die Nase, selbst mit der Nase, Krawatte gelockert, im Halsausschnitt seines olivgrauen Unterhemds. Benzoedämpfe sickern ihm ins Gehirn; sein Kopf schwebt auf einem Halo aus Eis.
    Auch eine Stunde später hängt die Meggezone noch im Raum, ein Pfefferminzgespenst in den Lüften. Slothrop liegt bei Darlene. Der Ekelhafte Englische Bonbon-Drill gehört der Vergangenheit an, jetzt schmiegt er seine Leiste an ihren warmen Po. Das einzige Bonbon, das er nicht kosten durfte, das Mrs. Quoad ihm vorenthielt, war das "Feuer des Paradieses", jenes berühmte Praline von teurem Preis und proteischem Geschmack, das dem einen nach "gesalzener Pflaume" schmeckt, dem anderen nach "künstlicher Kirsche" ... "gezuckerten Veilchen" ... "Worcestershiresauce" ... "gewürztem Sirup" ... Zahllose derartige Beschreibungen sind schon gefunden worden, positiv und prägnant keine länger als zwei Wörter -, ganz wie die Beschreibungen der Gift- und Nervengase, die man in den Ausbildungshandbüchern lesen kann, "süßsäuerliche Aubergine" darunter die bis jetzt wahrscheinlich längste. Das Feuer des Paradieses kommt heute so gut wie nie mehr zum Einsatz. Im Jahre 1945 ist es kaum noch irgendwo aufzutreiben, jedenfalls nicht in den sonnenhellen Läden und polierten Schaufenstern der Bond Street oder des öden Belgravia. Aber

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