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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Man peitschte die Sklaven bis aufs Blut und erhob es zum Gesetz, ihnen die Achillessehne durchzuschneiden, sollten sie einen Fluchtversuch unternehmen. Beim zweiten Versuch wurde ihnen ein Bein abgenommen. Die Sklavinnen dagegen hatten der sexuellen Willkür zu gehorchen und bedienten die Gäste auf Festen bisweilen nur mit einer Serviette bekleidet. Ihre Herrinnen selbst führten sie als schönste Errungenschaften vor und vermieteten sie wochenweise. Flohen die Sklaven in den Dschungel, warteten dort schon indianische Kopfgeldjäger, die mit der Sklavenhatz ihr Geld verdienten.
    Nach dem offiziellen Ende der Sklaverei war dem Menschenhandel aber keineswegs ein abruptes Ende gesetzt, vielmehr wuchsen die sogenannten »Freiheitsdörfer«, in denen sich ehemalige Sklaven in scheinbarer Unabhängigkeit niederließen. In Wirklichkeit handelte es sich um von den Franzosen eingerichtete Rekrutierungslager für Arbeitskräfte, aus denen sich Geschäftsleute bedienen konnten. Sie zahlten eine einmalige Summe, gegen die sich der frühere Sklave für bis zu vierzehn Jahre zur Arbeit verpflichtete. Ganz selbstlos aber waren auch die Motive der »Abolitionisten« zu Beginn des 19 . Jahrhunderts nicht gewesen, hatte man doch durchaus das eigene Seelenheil im Auge, als man für die Abschaffung der Sklaverei eintrat. Erst der erste Präsident der unabhängigen Republik Senegal, der 1962 an die Macht kam, beendete diese Verhältnisse endgültig. Im benachbarten Mauretanien wurde die Sklaverei sogar erst im Jahr 1980 offiziell abgeschafft.
    Nachdem 1848 das offizielle Ende der Sklaverei aber allgemein besiegelt war, setzte der Niedergang Gorées ein. Hatten zuletzt fünftausend Menschen hier gewohnt, zogen sich die meisten nun auf das Festland zurück. Über die Insel legte sich ein Schlaf. Die Paläste standen leer, oder sie wurden von Obdachlosen besetzt. Wer Ambitionen hatte, Geschäfte, Politik oder Karriere machen wollte, orientierte sich gen Festland, und auf Gorée blieb nur eine kleine Gesellschaft Heimatliebender, Alter und Immobiler zurück – bis die Sklaverei zurückkehrte, doch jetzt als Erinnerungsarbeit, als Pflege des Museums, des Kulturdenkmals. Noch einmal lebte die Insel auf im Geist des düsteren Erbes. Doch jetzt kapitalisierte sie das Gedenken.
    Dass sie so idyllisch liegt, von ihren autofreien, gepflasterten, ganz schmalen Gässchen durchzogen, dass sie immer noch so viele Kolonialbauten versammelt, die zwischen blühenden Sträuchern unter alten Bäumen liegen, dass sie heute den Tieren freien Lauf lässt und der Musik jedes Fenster öffnet, dass sie Künstler beheimatet, die klassisch malen oder unklassisch aus Müll Skulpturen herstellen oder Andenken, das alles hat aus Gorée ein begehbares Souvenir, einen Ort der Boheme gemacht, in dem sich die Spuren der Vergangenheit unter aller Erinnerungsarbeit ästhetisiert, verdünnt und verflüchtigt haben.
    Und doch: In dieser altehrwürdigen Anstrengung, sich an einem Ort selbst seine Geschichte zu vergegenwärtigen, wird auch die Bereitschaft frei, sich vom Schauplatz der Ereignisse in neue Zonen der Erinnerung zwingen zu lassen. Doch wurde die Einfühlung in die Erfahrung der Leidenden stets auch propagiert, um in solcher Katharsis das eigene Gewissen zu erleichtern. Wer sich nachträglich in die Opfer einfühlt, kann nicht Komplize der Täter sein. Die Wirklichkeit, die er an Gedenkstätten besucht, hat ein synthetisches Moment.
    Die Grundfrage aller Reisenden lautet: »Wo war ich?« So sagt man, wenn man den Faden einer Erzählung verloren hat, und ebenso sagt man es, will man Rechenschaft darüber ablegen, wo sich die Wirklichkeit einer Reise manifestierte – in einem Blick, einem Bauwerk, einer Situation. Am Mahnmal angekommen, stellt sich sogleich das Vergessen ein. Ein Ort, so pittoresk er ist, kann so profan sein, so tatsächlich. Erst in der dichtesten räumlichen Annäherung wird dann die eigene Ferne von dem, was man suchte, offenbar, und so streifte ich an diesem Sommermorgen durch das lyrisch aus dem Meer aufsteigende Gorée und konnte mich nicht lassen vor Freude und Schauer.
    In einem Lädchen stöberte Greta einen Nachdruck der »Esquisses sénégalaises« von David Boilat auf. Er hat sich 1853 an den Versuch gemacht, der Szenerie ringsum Anschauung zu geben. Hier sieht man Wilde in karger Landschaft, doch alle mit europäischen Gesichtszügen. Es wirkt, als seien die Meister unfähig gewesen, das Fremde wiederzugeben oder es richtig

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