Die Enden der Welt
es als Antwort auf den aggressiven Kolonialismus der Briten, dass man Saint-Louis als Zentrum von Französisch-Westafrika ausbaut, und so wird die Stadt zur gleichen Zeit ein Ort humanistischer Hochkultur wie der Schmerzen und der Unterdrückung.
Zwar war die Sklaverei offiziell abgeschafft, doch existierte sie noch hundert Jahre weiter. In Saint-Louis entwickelte sie sich verdeckt, indem man die Position des Haussklaven für untergeordnete Dienste aller Art schuf – eine weitgehend rechtlose Position von hoher Attraktivität für die Herrengesellschaft. Zeiten zogen herauf, in denen die Zahl der Sklaven in der Stadt die der Freien bei weitem übertraf.
Wir haben im »Hotel de la Poste«, einem verrotteten Kolonialbau, Quartier gefunden. Er ist schön wie ein großspuriges Klischee. Die Veranda, ganz aus Bambus gefertigt, mit Stroh gedeckt, mit Rattanmöbeln bestückt, wird von einem Barmann mit Fliegenwedel bewirtschaftet, einem Mann mit rotem Käppi, der nur ganz langsam an den Tisch kommt, aber farbige Longdrinks in hohen Gläsern mit einer Inbrunst serviert, als stehe in den Zehn Geboten, »Du sollst Longdrinks machen«.
Greta bevorzugt anschließend das Ruhen im Zimmer. Es ist mittags zu heiß, um auszugehen. Die Klimaanlage haben wir abgeschaltet, zu laut ist ihr Dröhnen. Also öffnet man das Badezimmerfenster und schafft sich ein bisschen trägen Durchzug. Dann wartet man nackt auf dem Bett ab, dass in feinen Perlchen der Schweiß austritt, gerade eben gestreift von der Luft, die sich auch nicht bewegen will, und vor dem Fenster balgen sich vier Geiervögel in einer Baumkrone. Doch auch sie absolvieren ihre lahme Übung wie in Zeitlupe.
Saint-Louis besteht eigentlich aus zwei Orten: dem Küstenort mit seinen Verwaltungsbauten, seinen dämmernden Hotels im alten Stil und den kaschierten Palazzi, und dann, erreichbar über den »Pont Faidherbe«, eine vorgelagerte Insel, eher eine langgestreckte Sandbank mit geraden Gassen, halbhohen Häusern von heller Patina, mit schmiedeeisernen Gittern, Balkons, Innenhöfen. Doch die meisten sind leer.
Einmal kommt ein muslimischer Würdenträger mit einem kleinen Jungen an der Hand durch die Gasse. Kopfschüttelnd liest er die Graffiti auf der Wand eines aufgegebenen Hauses.
»Geht nicht hinein«, sagt er, »dort wohnt ein Phantom!« Verkorkste Architekturen. Abfall überall. Irgendwo liegt Aas und schwängert die Luft. Die besser erhaltenen Häuser sind umfriedet, keines von ihnen wurde direkt am Wasser gebaut. Doch sind die Beete manchmal so akkurat wie die Augenbrauen einer Türkin. Wir steigen durch eine Ruine, im Hof ist eine riesige Meeresschildkröte gestrandet und verendet. Daneben liegt eine Landschildkröte, die wütend fauchend an ihrer Kette zerrt und sich trotz der glühenden Hitze im Sand nicht erschöpft.
Der zweite, dem Meer direkt zugewandte Inselteil ist ein Slum. Seine Kanäle im Inneren sind voller Abfall, der längst in Fäulnis übergegangen ist. Seine Außengrenzen aber werden umwogt von der weißen Brandung mit ihren blütenreinen Schaumkronen. Davor schaukeln die Pirogen. Manche werden, hoch beladen mit Fisch, von den Wogen zurück ans Ufer geschoben, wo die Männer mit Kisten auf dem Kopf herangelaufen kommen, um die Ware abzutransportieren.
Die Architektur des zweiten ist wie die des ersten Inselteils, nur transformiert in den Dreck, ohne nennenswerte Bauten. Statt ihrer verfallen zwischen Unrat, liegengelassenem Gerät und Spielzeug dürftige Hütten mit Sitz- und Liege-Ensembles, Wohnorganismen mit dem Erscheinungsbild bloßer Ablagerungen. In der Vielfalt der Verfallsformen verfeinert sich die Koexistenz des Menschen mit allem, was er braucht, verbraucht und ausscheidet. Symbiosen überall.
Am Strand enthüllt eine etwa Siebenjährige unvermittelt ihre Scham, indem sie das Kleidchen auf Brusthöhe anhebt. Alles kreischt. Sie hat es nicht für Geld, sie hat es für uns getan, stolz, etwas so Schönes und Schockierendes ihr eigen zu nennen. Als sie den Effekt bemerkt, verlangt sie dann doch ein bisschen Geld und schmollt, keines zu bekommen.
Greta äußert, sie fühle sich vom »Dithyrambischen« des Ortes erfasst, von der Musikalität seiner Effekte und Farben, vom Strotzen und Schwelgen, vom Überfluss im Verfall. Dennoch erwacht sie morgens und erzählt einen Traum. Wo die Wirklichkeit phantastische Züge annimmt, wirken die Träume oft phantasielos, und am Tag kann es passieren, dass man wenig mehr tut, als das Sammelsurium der
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