Die Enden der Welt
Orientkitsch, oder es ist glühender Delacroix mit Blick auf den dunklen Küstenstreifen vor Dakar mit seinen Basaltkuppen unter dem Smog.
Ja, man kann strauchelnd in die miniaturisierte Welt des Kolonialismus eintreten, erfasst von verbotenen Gefühlen. Es darf nicht schön sein, was man das »Dachau Afrikas« nannte, es darf im Sonnenglanz nicht blühen, seine Mauern dürfen den Duft warmen Lavagesteins nicht ausdünsten, die Atmosphäre darf nicht so leicht sein und die Romantik der leeren Paläste nicht so schwärmerisch. Ein Museum darf all das nicht sein, ein Denkmal mit dem Namen »Weltkulturerbe«, etwas, dem man attestiert, dass es zu einer abgeschlossenen Epoche der Geschichte gehört.
Es gibt Orte, die den Flaneur zwingen, es nicht mehr zu sein. Orte, an denen das Schweifen zum Stillstand kommt. Es gibt die Orte der Zwangsvorstellung, die Bühnen der Manie. Es gibt schließlich Orte, die Erinnerung herstellen durch eine Sequenz von unausweichlichen, aufdringlichen, sich eigenmächtig vom Boden des Bewusstseins lösenden Bildern, und es gibt Nicht-Orte, die nichts als Vergessen produzieren. Wir sehen der Wucherung solcher Nicht-Orte zu, die wenig mehr sind als Aufbewahrungsorte für Menschen.
Die Orte der Ratlosigkeit sind es, an denen sich keine Erfahrung befestigt, die kein Bedürfnis befriedigen, die eher das Verlangen, nicht zu sein, nähren. Sie sind Stätten der Auslöschung. Man muss nicht bewusst sein, um sie gesehen zu haben. Kein beteiligter Blick streift sie, keine Fürsorge hält sie aufrecht, keine Geschichte will hier beginnen. Der Reisende findet keinen Zugang zu diesen Orten, er müsste sie in ein Buch, einen Film, ins Fernsehen versetzen, in einen anderen Zusammenhang. Dann wäre dieser Hafen vielleicht nicht einfach der dreckige kleine Landeplatz, sondern die Verheißung für ein »Weit weg«. Und dahinter läge die Welt.
Gorée, der unausweichlich afrikanische, der Ort des Menschenmöglichen, hat eine andere Art Erinnerung zu speichern, und hätte er sich mir nicht spontan so vermittelt, ein Blick in Gretas Gesicht hätte ausgereicht, sein Nachbeben in der Erschütterung zu identifizieren. Er liegt da, besetzt von der Vorstellung, dass Menschen hier ihrer Zerstörung entgegengingen, und sie sollten diese nicht allein erfahren, sie sollten sie so bewusst wie möglich erfahren. Sie sollten in das endlose Jetzt ihrer Qual versetzt werden, ein lang andauerndes Gegenwärtig-Sein, das sich zum Existenzbeweis verdichtete: Ja, es gelang ihnen nicht, sich vom Leben zu lösen, und wir Nachgeborenen verbannen sie in die Vorstellung einer historisch entrückten, quasi literarischen Folter.
Wie soll man ihn sich aber vergegenwärtigen, den Schmerz, der nach innen ging, der stumm machte, weil er die Verwüstung, die Verwandlung ins Leere, ins Nicht-Sein einleitete, dieser Schmerz als Eingriff der Totenstille? Wie will man ihn vernehmen gegen den Schmerz, der schrie, den vitalen, sich lautstark äußernden, expressiven Schmerz? Wie will man die Bewegung des Hinscheidens bewahren neben der Bewegung, aus der Rousseau die Sprache ableitete, der des Schreis, der Interjektion, aus der sich Sprache auch bei Nietzsche angeblich erst löst? Hatte der Erlöschende keine Sprache? Und welcher Impuls für eine Mitteilung bleibt erhalten, wo der Gefolterte die Einheit mit seinem Körper kündigen will?
Wir näherten uns dem Kernstück der Siedlung. Das »Maison des Esclaves«, errichtet von 1776 bis 1778 , ist heute ein Schauraum, eine Vitrine des Menschenhandels, voller Verliese, in denen die Sklaven ihre Verschiffung erwarteten. Alle sind sie hierhergekommen. Nelson Mandela bestand darauf, sich in eine Zelle zu pferchen, Papst Johannes Paul II . entschuldigte sich für die Verstrickung der Christen, Bill Clinton bedauerte ganz allgemein, seine Gattin Hillary ließ sich hier von Annie Leibovitz für die »Elle« fotografieren, und George W. Bush blieb zwanzig Minuten, in denen er von »schlimmen Schicksalen« sprach. Die ergreifendste Entschuldigung aber formulierte hier Brasiliens Präsident Lula für sein Land, das von allen Ländern am meisten Sklaven importierte und die Sklaverei selbst erst 1888 abgeschafft hatte. Ihre Folgen bestimmen die Gegenwart: Fast die Hälfte der heutigen Einwohner Brasiliens sind afrikanischen Ursprungs.
Wer immer dieses Sklavenhaus betreten hat, muss es bedrückt getan haben und zugleich unwillentlich berührt vom Zauber der Stätte, ihrer anstößigen Schönheit. Hier
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