Die Enden der Welt
Außenwelt zu protokollieren.
Greta etwa versäumt kein Tier, das in unseren Horizont eintritt: nicht die Kraniche in den Wipfeln der höchsten Bäume, die Geckos, die spiralförmig die Stämme emporlaufen oder in den Hotel-Swimmingpool kacken, nicht das schwarze Schwein in einem Rinnsal aus Dreck, das Erdferkel im Streckgalopp über dem Hügel am Markt, den Dörrfisch, auseinandergerissen und aufgespannt wie Christus am Kreuz, nicht den im Straßengraben liegenden Hund mit den blutig offenen Ohren, die Vögel mit ihren originellen Rufen, die Schmetterlinge mit fremdartiger Zierung, alles in jedem Augenblick in Berührung mit Blut, Erde, Rinde, Kot, Asche, Pisse, Abwasser, Sekreten, dem Tod übergeben oder verschwistert oder assoziiert oder zugewandt, eben wie alles Kreatürliche mit dem Gesicht zum Verfall – lauter Formen, die durch das Hygieneprinzip der westlichen Welt zum Verschwinden gebracht werden.
Es ist wahr, dies ist ein einzigartiger Ort, einzigartig auch darin, wie er sein Leben in einer Schaumkrone sammelt und auf dem kochenden Atlantik tanzen lässt. Und doch werde ich das Déjà-vu nicht los, diese Anmutung eines Ortes, an dem ich früher schon einmal war, aber anders als die rückgeführten USA -Touristen auf Gorée, sondern unmittelbarer, sinnlicher.
Jeden Morgen ziehen wir aufs Neue in die Kakophonie der Effekte. Jeden Morgen spielt der Alte auf seinem mit Ziegenfell bespannten Saiteninstrument die gleiche Tonfolge, so lange, bis wir ein paar Scheine in das Loch seiner Kora stecken. Manchmal unterlegt er sein Saitenspiel mit einem Unisono-Gesang, der nörgelnd, räsonierend, unzufrieden klingt, aber er handelt von der Liebe – ein Gesang, der irgendwo in der Wüste erfunden wurde und schon in der Nähe eines Hotels falsch anmutet.
Manchmal bleiben wir stehen und hören zu, wie ein zweiter Musiker, dieses Mal ein Gitarrist, einfällt. Ein ergreifender Minimalismus ist das, den zwei Saiteninstrumente, bereichert von einer einfallenden Rezitativstimme, klanglich umschreiben. Sie produzieren Sounds wie aus der Natur genommen, dann wieder Stimmungsbilder, gemalt wie aus Mandolinenklang. Es ist, als müssten sich die Gefühle erst verankern, sich gewöhnen, dann variieren sie, dann bekommen sie Höhe und Laune, ihre Heiterkeit ist musikantisch.
»Wir üben nie«, sagt der Ältere der Musiker. »Musik ist Teil meines Körperbaus, und sie lässt meinen Geist wachsen. Wir reden nicht drüber, wir improvisieren nur.«
»Die reine Musik der Tradition ist eine Quelle der Wahrheit«, fällt der andere ein und begeistert sich zu einer Liebeserklärung an das Griot, die musikalische Sprache der fabelhaften Bewahrer der oralen Kultur, die in langen Gesängen, Rezitativen, Balladen die Überlieferungen der klassischen Musik hüten, wie sie in bestimmten, ehrwürdigen Familien von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Musik steht im Wechselgesang mit der Natur. Wir mögen das vielleicht nicht hören, aber im Unhörbaren der Musik schwingt es mit.
Wir sind durch den Unrat, über die Gräben, durch die schmalen Fußwege gekommen, wir haben keine neugierigen, keine verletzten, keine erstaunten Blicke gesehen, eher ausharrende, schwimmende Augen, in die ein Ausdruck, ein Erschrecken, eine Empörung nur langsam einsickern würden, um zu verweilen. Augen, in denen die Begegnung mit dem Fremden einen unsichtbaren Widerschein fände, wie die mit dem Tod, oder die von der Flatteraugenkrankheit animiert sein könnten.
»Wird man von dieser Krankheit befallen«, sagt mir ein Flussblinder, »so arbeiten sich die Maden bis hinter die Bindehaut vor, kopulieren da und vermehren sich sichtbar. Die Augen schimmern dann von der inneren Bewegung.«
Auf dem Markt werden keine Arbeitskräfte mehr angeboten, sondern die Restposten aus den Überschüssen Europas, den Massenproduktionen Chinas, den Billigproduktionen des Ostens. Dazu gesellt sich das textile Kunsthandwerk des Landes, und die pharmazeutischen Angebote führen bis hinab in die animistische Heilkunst des Landes. Über eine lange Strecke reihen sich die Stände mit Schlangenköpfen, Singvogelschnäbeln, Schildkrötenfüßen, Antilopenhörnern, Affenschädeln, Schlangenhäuten, Löwenpfoten, Fledermausköpfen, Krokodilinnereien. Alles wirkt. Kaum konserviert, aber auch nicht einbalsamiert, sondern eher vom Miasma der Verwesung umgeben und von Fliegen umschwärmt, liegen hier selbst Tierrückstände, von denen man uns lieber nicht sagt, was sie einmal
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