Die Enden der Welt
neben der Kabine gestanden und mich animiert hatte, zu lachen. Ich lachte nicht, sah aber optimistisch aus.
Der Beamte runzelte die Stirn.
»Stimmt etwas nicht?«
Er schlug eine Seite weiter.
»Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?«
Ich blätterte auf Seite eins: »Der Inhaber dieses Ausweises ist Deutscher.«
»Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?«
Ich blätterte wieder auf Seite eins. Er verglich mein Gesicht mit dem Foto, abermals.
Dann zeigte er auf den Namen der deutschen Provinzstadt, auf das Amtssiegel, das Datum, den Stempel, die Abzeichnung des Beamten und Direktors, gewichtige Amtsinhaber, damit befasst, die Bedeutung von Personen und Daten, Orten, Fristen und Funktionen aufzubauschen.
Dieser, der chinesische Beamte, sah auf die Signatur des rheinischen Amtsdirektors, die sich in einer ununterbrochenen Linie zum Seitenrand schlängelte. Es war offensichtlich, dass er sich kein lebendes Individuum dazu vorstellte. Dann erst wandte er mir den Rücken zu und ging die Sendungen unter »W« durch.
Das Postamt wurde hinter mir unverzüglich geschlossen. Auf dem Connaught Place stand eine Gruppe Touristen. Mit zurückgelegten Köpfen sahen sie sich die Skyline an und entzifferten die Namen auf den Gebäuden, genauso wie sie in Kirchen die Heiligen und in Galerien die Signaturen buchstabieren.
Ich ließ mich auf dem Rand eines Blumenkübels nieder und blätterte durch eine englischsprachige Illustrierte. Sie war zwei Wochen alt. Zunächst folgte ich drei Absätzen eines Artikels über den Nervenzusammenbruch einer Schaupielerin, die vor Jahren als Nacktdarstellerin Erfolg gehabt hatte. Dann wurde berichtet, wie Frauen immer wieder auf die Höflichkeit von Schwindlern an der Haustür hereinfallen. Unter »Kultur« fand sich der Bericht über einen Flugzeugabsturz und die Verarbeitung der Wrackteile zu einer Installation. Die roten Polstersitze der Economy Class hingen in den Bäumen wie Kunstwerke. Das Bild wurde in der Unterzeile als Ausdruck für »menschliches Versagen« gedeutet. Auf der »grünen Seite« sah man verschiedene Frösche, im Gras, auf Blättern, auch unter Wasser, wo sie in den Schlamm laichten.
Ich setzte mich ans Fenster des nächstbesten Restaurants und musste, während ich aß, an Fo denken. Erst saß er auf seinem Sessel, dann hantierte er mit dem Netz über den Gepäckstücken, dann trat er hinaus in den Regen auf der Nathan Road. In welchem Loch er wohl lebte, hier, wo jeder Quadratmeter ein Vermögen kostete? Ich sah ihn vor seinem Fernseher, über sein Waschbecken gebeugt. Als mir seine spöttische Mimik einfiel, bewunderte ich ihn, wie ich gerade alles Tote bewunderte, wie ich sogar eine Leiche in der Zeitung immer zuerst vorbildlich fand.
Als ich mir die Rechnung geben ließ, las ich auf der Kopfzeile den Namen des Restaurants: »Die Kröte im Loch«. Ich hatte drei San-Miguel-Bier getrunken, das Geld legte ich deshalb umso sorgfältiger, übereinandergeschichtet auf die Untertasse. An der Hafenmole von Kowloon schnappte ich mir ein Taxi, denn es war halb zwölf. Im Zimmer angekommen, schaltete ich sofort den Fernseher an, wusch mich, während sich das Bild aufbaute, und trat dann mitten in einem schwierigen Dialog wieder vor die Scheibe. Sie hatten Sorgen, richteten ihre Augen fragend gegeneinander, blickten weiterredend in die Ferne, zogen verstimmt die Brauen zusammen, schlugen in einem skeptischen inneren Monolog die Augen nieder. Das war TV Jade. Nichts mochte ich davon sehen.
Auf TV Diamond lief ein Spot gegen das Hinauswerfen von Gegenständen aus hohen Gebäuden:
»… jedes Jahr werden hundert Menschen in Hongkong durch stürzende Gegenstände getötet, die aus hohen Stockwerken achtlos …«
Die Stimme klang besorgt wie die einer Mutter. Dazu erschien ein Trinker, der zuerst in seinem Fernsehsessel randalierte und dann eine Bierflasche rückwärts über die linke Schulter durch das offene Fenster warf. Danach wurde es still. Die Flasche fiel immer noch. In die kommende Katastrophe hinein mahnte noch einmal inständig die Mutter. Mehrmals fiel das Wort »Opfer«. Darauf wurde es abermals still, und das Bild stand eine halbe Minute in graublauer Monotonie. Dann das Trompetenkonzert von Charpentier, Geige, Federkiel und Palette schieben sich auf dem Bildschirm zu einem Emblem zusammen, wieder spricht eine Frau aus dem Off:
»Zeit für die Künste. Wir schalten um zu: Meisterwerke. Die heutige Sendung bringt Ihnen ›The Mild One‹, die Zigarette für den
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