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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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mitteilt, dem Stein, dem Leder, dem Wachs. Nichts, nur das Licht schwimmt auf der Haut. In der erstbesten Kabine eingeschlossen, setze ich mich angezogen auf den Klorand. Wie gerne ich hier bin.
    Wie schön ist die Stadt! Wann habe ich zuletzt eine Avenue überquert, auf einem Platz in den Himmel gesehen, wo sich alles ringsum in den Äther reckt und in jede Weite zeigt? Wo Kaskaden von Schriften von den Fassaden stürzen, auffliegen und über alle Dächer davonziehen? Durch den Schlitz zwischen Türabschluss und Decke fiel etwas Lampenlicht. Es war ganz gelb, indifferent gelb und strich über den Türrand wie die Luftbrücken auf Renaissancegemälden, wenn die Heiligen gen Himmel gehen. Dann ging ich zurück an meinen Tisch, senkte Messer und Gabel auf den Teller und führte die Serviette zum Mund. Ihr Saum tränkte sich sofort mit Blut. Beim zweiten Hinsehen war es kein Blut, nur der rote chinesische Schriftzug mit dem Namen des Restaurants.
    Als ich das Lokal verließ, ging zwischen den Häusern die Dämmerung nieder. Entschlossen, noch einmal beim Postamt vorbeizugehen, schlug ich den Weg zum Wasser ein. In diesem Augenblick war der Verkehr so dünn, als habe man die Straßen gesperrt. Am Schalter saß der Beamte vom ersten Mal. Erst als er das Foto im Pass sah, schien er sich zu erinnern. Danach brauchte er kaum zwanzig Sekunden.
    Sein Blick war auf Ausdruckslosigkeit eingestellt, aber vor den Lippen schwebte ein Lächeln. Ich blieb am Schalter stehen, suchte mit den Augen zwischen den Stapeln zusammengeschnürter Briefe auf dem Brett, wie alle, die es nicht fassen, dass man sie vergessen hat. Auch der Beamte stand ganz reglos neben diesem Stillleben aus unabgeholten Briefen, Karten, Telegrammen, Eilsendungen – eingeschlossene Stimmen, die in allen Sprachen der Welt danach drängten, gehört zu werden. Manche waren alt geworden, andere hatte die Gegenwart überholt.
    Es war vergeblich.
    Auf den Platz zurückgetreten, in die Stimmung eines Doms, in dem soeben vom Küster nach und nach die Kerzen angezündet werden, wartete ich, bis sich ein Bettler angeschlichen hatte, gebückt, aber mit der theatralisch emporgequälten Haltung des echten oder des gespielten Armen. Auch den echten bleibt nichts anderes übrig, als die Armut so gut wie möglich zu spielen. Aber ich trat statt einer Antwort eine Blechbüchse so stark über den Asphalt, dass sie sich ein Stück weit vom Boden aufhob, um in der Radkappe eines parkenden Autos eine winzige scharfe Kerbe zu hinterlassen. Da zog der Bettler seine Bitte zurück.
    Sobald ich mich konzentrierte, schwoll das Gefühl an. Im Stich gelassen. Ich sehe mich unter Millionen über die Straße gehen, in schlechter werdender Kleidung. Ich pendele ein paarmal mit der Fähre hin und her, esse Mangos, der Saft läuft mir in den Hemdkragen, ich sitze, um mich abzukühlen, im Luftzug der Kaufhauseingänge, in den Flecken auf meinen Klamotten die Geschichte einer Verwahrlosung, dahinter die andere Geschichte, unsichtbar, in die ich hineinsehe, erst täglich, dann ohne Zeit und Maß. Jetzt ruhe ich mich aus, habe mein Leben, wie alle, die in die Pleite gekommen sind, mit einer Schlüsselepisode ausstaffiert. Ich sitze am Star Ferry Pier, haue Touristen an, habe meine Erzählung parat und verteile Sightseeing-Tipps. Die Boote legen ab, ich bleibe in meinen schlechten Kleidern zurück. Die Touristen denken: »Er redet immer noch, redet sich seine Geschichte vor, aber er ist bei vollem Bewusstsein.« Vielleicht denken sie meine Geschichte noch ein Stückchen weiter. Das Bild eines gestrandeten Paranoikers in seinen Zwangsvorstellungen, immer dieselben Personen, dieselben Situationen besprechend.
    Daheim setzt sich Ricarda im Bett auf, ohne Atem, ihre grauen Augen sagen nichts, sie legt die Arme über die angezogenen Knie, schmale Arme, runde Knie, senkt den Kopf, die Augen halten mich fest. Das soll nicht aufhören. Augenblicklich hält sie still, meine Verlegenheit fühlend, die an ihrem Körper aufsteigt, befremdet und unbeteiligt.
    Stattdessen finde ich mich in diesem Wolkenkratzer-Friedhof, schlafwandelnd. Abgeschnitten von der eigenen Vergangenheit, ohne Zusammenhang mit den Menschen und Handlungen, die mich hierhergebracht haben. Bei lebendigem Leib sanft und therapeutisch entfernt von mir selbst, Aussichten ausgeliefert, viewpoints, unforgettable moments.
    Am selben Abend wanderte ich durch Wan Chai, verschwand zweimal in Bars in der Lockhart Road, blieb jedes Mal fast zwei Stunden

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