Die Enden der Welt
und französische Forscher haben die These aufgestellt, dass Gorée im Sklavenhandel gar keine gewichtige Rolle gespielt hat.«
»Man spricht von Millionen verschiffter Sklaven, vom ›Dachau Schwarzafrikas‹!«
»Hier wurden diese Forscher auch öffentlich als ›Holocaust-Leugner‹ bezeichnet, aber in der Tat waren ihre Thesen recht gut fundiert. Zwischen 1700 und 1850 wurden nur etwas mehr als 427 000 Sklaven über Gorée verschifft.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, wir reden von nicht einmal fünf Prozent! Gorée hatte also anders als Saint-Louis, wenn ich mal so sagen darf, eine relativ geringe Bedeutung als ›Angebotsregion‹.«
Ich hätte sagen können, dass dies eine obszöne Statistik sei, hätte die gängigen Stereotype aus dem Stehsatz ziehen können: dass Zahlen nichts über Menschen, ihre Erfahrung, ihre Leiden aussagen, ich hätte auseinandergerissene Familien und Verschleppungen ins Feld führen, hätte das Wort »Individualschicksale« unterbringen, hätte fragen können, was es ihm denn bedeute, die Hauptstadt der Sklavenverschleppung zu bewohnen. Ich hätte mich selbst fragen können, warum ich in Gorée den Spuren des Gedenkens gefolgt war und in Saint-Louis, wo es keine Inszenierung gab, nicht. Ich hätte überlegen können, ob die Idylle des Weltkulturerbes mein Gedenken verkitschte, während die glanzlose Präsenz afrikanischen Elends in Saint-Louis mich zum Gedenken eben gar nicht erst einlud.
Aber ich nickte ihm bloß zum Abschied zu, belehrt und blamiert, erhob mich aus dem Bambussessel und schlenderte zurück ins Innere des Hotels, im Vorbeigehen angezogen von einer kleinen gerahmten Fotografie auf der geblümten Tapete. Zuerst erkannte ich Philippe Noiret, dann Stéphane Audran, dann die anderen. Dies war mein Déjà-vu: An diesem Ort hatte Bertrand Tavernier 1980 seinen Film »Der Saustall« gedreht. Auch das noch. Die erste Haltestelle der Erinnerung ist nicht die Geschichte, sondern das Kino. Ich stand noch vor dem Foto, da trat Greta in die Halle und rief:
»Du glaubst nicht, was ich geträumt habe! Also –«
Hongkong
Poste restante
Im Hof war Glas zersplittert. Alarmiert, aber träge, rekonstruierte das Ohr die Geschichte dazu – in einem Scharren am Boden versickert, aus einem Schrei herausgetreten, von einer Explosion erweckt. Bis in die Stille vor dem Sturz schweift das Ohr. Da war noch kein Hof und nicht die Erregung des Erschreckens. Dann die Stille im Sturz.
Scheppernd und splitternd wird draußen das Glas über dem Zementboden zusammengefegt. Zwei Mädchen lachen abwechselnd in das Klirren der Scherben. In der Wäscherei gegenüber muss jemand ein Fenster geöffnet haben. Denn plötzlich ist ganz deutlich zu hören, wie die Maschinen ihren Dampf in den Hof stoßen. In diesen stampfenden Puls schreit eine Männerstimme hinaus, die Mädchen rufen zurück. Dann ist nichts mehr zu hören.
Draußen wird ein Radio angeschaltet, der Verkehr zerfließt zu einem monotonen Basso continuo, der nur manchmal im Gellen einer Hupe reißt. Selbst durch das geschlossene Fenster dringt die stickige Straßenhitze. Als ich aber die Augen schließe, erscheint mir die rote Erde Chinas, sie ist wirklich rot und in den Gebirgen so ordentlich in Scheiben und Kuben aufgetürmt, wie ich es der Natur nicht zugetraut hätte.
Im Vergleich damit ist Hongkong eine einzige Übertreibung, über und über beschriftet, in der Hafenbucht und am Flughafen wie aus Zigarettenschachteln, aus Verpackungsmaterial für Filme und Knäckebrot zusammengebaut. Als ich wieder einschlafe, sehe ich, wie sich über der Skyline die Wolken türmen. Dann beginnt es unhörbar zu regnen, die Reifen schneiden mit einem schmelzenden Glissando durch die Pfützen.
Ich setze mich auf, bringe die Füße auf den Boden und schalte, von der Bettkante aus vorgebeugt, die Klimaanlage von »cool« auf »very cool«. Sofort erzittert die Abdeckung. Aus dem Rost flimmern die im feuchten Film festgehaltenen Staubfäden raumwärts. Diese Hotelzimmer mögen vielfach signiert sein, doch eigentlich bezeugen sie die Abwesenheit von jedem und allem. Hier war niemand. Ihre Stühle sind nie belastet, die Decken nie ergriffen, die Bilder nie gesehen worden. Der Geschmack der Einrichtung ist niemandes Geschmack, und wenn man jemanden fragen würde, was er hinter seiner Zimmertür getan habe, so könnte er eigentlich nur beschreiben, in welcher Weise er dort abwesend gewesen ist.
In Deutschland ist Vormittag, man atmet die Luft des
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