Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
und machte die flüchtige Bekanntschaft eines Animateurs:
    »Come inside, Sir, come inside.«
    Ich sah ihn fassungslos an. Da sank auch der Animateur in sich zusammen und schüttelte den Kopf. Als ich durch die Lounge des Hotels kam, erkannte der Nachtportier an meinem so konzentrierten Gang, dass sein Gast betrunken war. Ich winkte entschieden ab und bog in den Fahrstuhl mit einer Bewegung, die ich mir lässig wünschte, auch wenn ich inzwischen humpelte. Ich wusch mich nicht und zog mich nicht aus. Nur einmal schleppte ich mich noch an das Fußende des Bettes, um den heftig schneienden Fernseher auszuschalten.
    Brotrinden mit Butter; das Kind kommt auf den Rücksitz; iss auf, sagt der mütterliche Mund; du kommst nach Hause, wenn die Lampen angehen, sagt er auch; sein Ruf geht über die Feldwege, über den Sportplatz; der Schulweg steht voller Astern; aus einem Rohr tropft Wasser in eine Tonne, in der, flauschig aufgequollen, ein Maulwurf schwimmt. Das Mädchen knöpft das Hemd des Jungen über dem Bauch so weit auf, dass ihre kühle Hand hineinpasst, gleitet unter dem Gürtel durch zum Geschlecht. Dabei ist sein Gesicht wie beim Laufen, ein zerrissenes, später dann ein amüsiert resigniertes Gesicht.
    Nur in kleinsten Einheiten versteht der Junge seine Kindheit, etwa in Bildern von den Rändern großer Aktionen. Oder in der Natur, wenn er auf dem Waldboden lag und fühlte: Wenn ich mich tot stelle und dem Wald ganz ähnlich bin, wird er mich vergessen und sein wie zuvor, wie er für sich selbst ist. Der Wunsch, übersehen zu werden, vergessen zu sein, zu erfahren, was dann geschieht.
    Anderntags drang ich jenseits der Nathan Road immer tiefer in die Gassen der rein chinesischen Viertel vor. Hier stehen die Wohnblocks enger, die Fassaden sind in Auflösung, vor den Türen türmen sich Schutthaufen und Abfall, den die Bettler auseinandergezerrt liegen lassen. Manchmal spritzt ein Wagen die Bürgersteige ab. Aus dem heißen Asphalt dampft es in die Luft. Dann senken sich die Schleier, und der Abfall liegt wie zuvor da, nur durchnässt. Die Frau von der Good-Companion-Zigarette sah aus neunzig Meter Höhe herablassend auf mich herunter.
    Am Nachmittag hatte ich drei Ballungszonen durchlaufen: das Viertel zwischen Nathan und Jordan Road mit dem Nachtmarkt und der Star Ferry Pier in Kowloon, den Connaught Place mit Pier sowie den Hafenrundweg zwischen New World Centre und Harbour Village auf der Victoria-Seite. Ströme von Schweiß hatte die Haut abgegeben, sich der feuchten Hitze geöffnet und den Dreck eingesogen, sich in der Kälte der Einkaufszentren, der Schalterhallen und Wartezimmer zusammengezogen und den Dreck in sich eingeschlossen.
    In der Zeitung heute: keine Nachricht aus Deutschland. Im hinteren Teil die Rubrik Brieffreundschaften. »Cycling, cooking, making clothes« stand da unter »Interessen«, »making friends, picnic, listening to the radio« und »outdoor games«. Eine Verlegenheit stieg auf, obwohl ich ganz allein im Raum war. Ich sah aus dem Fenster, bis sie vorüber war.
    Eine Seite weiter stieß ich auf die Anzeige eines Escort Service. Auf schmalen Schultern die mächtigen Köpfe der hiesigen Frauen, ihre Schlüsselbeine dünn wie Geflügelknochen, dazu ihre grimmigen Mienen. Die Alten in hochgeschlossenen seidenen Schlafanzügen sehen dich kaum an, nennen dir jeden Namen wie einen Preis. Obwohl sie in der Wirklichkeit nie gefühlig tun, fahren sie im Fernsehen mit Booten über das Wasser und singen inständig »keep this Hongkong clean«. Heute wollte ich auch mit der Herzlichkeit der Werbung behandelt werden.
    Ich notierte mir Adresse und Telefonnummer des Escort Service und legte mich aufs Bett. Noch ein Kindheitsbild: Da kommt der Größte der Klasse, Hand in Hand mit seiner Mutter, die ihren Jungen immer in die Schule brachte, damit er vom Lehrer mit dem Lineal verhauen würde. Der Mund des Jungen wird, wenn er sich der Schule nähert, immer größer, suppt und greint, die Mutter kennt kein Pardon. Sie ist Witwe. Das Lineal saust auf die Waden des großen Jungen, der seine Knie durchdrückt vor Begeisterung …
    Durch das Fenster konnte ich bis in die New Territories sehen, die damals von China an Hongkong verpachteten Gebiete, die früher aus Sumpfland bestanden, in dem die Bauern Reis anbauten oder Geflügelfarmen unterhielten. Inzwischen sind hier längst Trabantenstädte entstanden, die Hütten gibt es nicht mehr. Dörfer aus zweihundert Wolkenkratzern erheben sich aus Senken und

Weitere Kostenlose Bücher