Die Enden der Welt
Gang auf, sie soll beruhigt sein, es wird nicht geschehen, auf keinen Fall, sie sind sich einig.
In einer Großaufnahme erscheint jetzt das Gesicht eines der Männer, ein entschiedenes, melancholisches und entschieden komödiantisches Gesicht, das man sich gerne näher ansieht. Darauf kommen mehrere Diener mit Tabletts aus der Kulisse, und im nächsten Bild regnet es.
Die Wäscherei stößt wieder einen Schub Dampf in den Hof.
Die Kaiserin trägt jetzt ein Diadem, schuppig gewölbt wie die Schale der Ananas. Von ihren Begleitern ist nichts zu sehen. Vielleicht ist sie deshalb so bewegt, denn sie wendet den Oberkörper mal hierhin und dorthin und späht so komisch, dass man kaum mehr die Kaiserin in ihr erkennt. Ja, sie ist ganz atemlos, sie horcht und horcht, vielleicht handelt es sich um eine Art Verschwörung. In einem plötzlichen Entschluss – man sieht es richtig, jetzt hat sie lange genug gewartet – kommt sie direkt auf mich zu, ganz nah, so dass die Zeichnung ihrer kleinen Nase und das Craquelé ihrer Lippen erkennbar ist, die wie aus graphischen Kürzeln komponierten Details ihres Gesichts, selbst die weißliche Polsterung der erhobenen Hand, über der sie gerade die Lippen schürzt … und in diesem fotogenen Ausdruck zu schweigen beginnt. Schon stürzt in die Abblende eine Graphik von großer Farbschärfe und Eleganz, setzt sich zu einem Schriftzug zusammen, zerfließt, wird wieder zu einem Schriftzug, zerfließt, bis das Orchester über die Klimax hinaus ist, und während das Bild verblasst, mitten in der Vorbereitung eines neuen Höhepunktes, auch ausgeblendet wird.
Der Tag hat seine Schuldigkeit getan, in der Schublade lächelt der Küchenchef, keine Scherbe ist mehr im Hof zu sehen, das Fernsehbild kühlt ab …
Im Foyer des »Shamrock Hotels« wird das Gepäck der Abreisenden mit einem Netz bedeckt und durch ein Vorhängeschloss gesichert. Aufschließen, Gepäck unterstellen, abschließen, aufschließen, Gepäck herausholen, abschließen: Diese Abläufe beherrscht »Mister Fo«, wie an seinem Revers geschrieben steht. Er kommt morgens um sieben und geht abends um sieben, mehr als die Hälfte des Tages verbringt er damit, das Gepäck unter dem Netz zu beobachten. Früher versah er den Etagendienst im neunten Stock. Dann gab es Beschwerden, vor allem über nächtlichen Lärm. Seitdem ist Fo ausschließlich für das Gepäck verantwortlich. Dreimal im Jahr beschert ihm die Klimaanlage einen Katarrh der Atemwege, dann fehlt er eine Woche, wird nicht bezahlt. Kaum kann er wieder geräuschlos atmen, ist er zurück.
Als ich abends aus dem Fahrstuhl in die Halle trat, stieß Mister Fo den Boy neben sich an, ehe seine Mimik in ihr Scharnier zurücksprang, vollkommen ausdruckslos. Dieses Gesicht, reduziert auf ein Abstraktum, war reines Gesicht, es verriet so wenig Charakter wie das eines idealen Clowns. An der Rezeption nahm man meinen Schlüssel entgegen, ohne aufzusehen. Überraschend erhob sich Fo und riss die Glastür auf. In seinen kunstledernen Sessel zurückgefallen, sah er seinen Sitznachbarn voll ironischer Ehrerbietung an, endlich menschlich.
Ich nahm die nächste Star Ferry und schüttete in einer Aufwallung blöder Mitteilsamkeit einem Kanadier namens Stephen mein Herz aus. Von unten stampften die Motoren gegen die Planken, die Fähre verlangsamte hundert Meter vor Kodak.
Die Geschichte. Ich beginne, von Ricarda zu sprechen, aber es misslingt. Erstens hat sie sich erübrigt, zweitens kommt es mir vor, als zerfiele schon alles in Objekte, Körperteile: Das waren die Lippen, die Arme, das war die Farbe der Haut, der Geruch des Handtaschen-Innenfutters, der Geschmack der Zunge im Mund und der Luft. Sie saß in ihrem Bett und blickte mich grausam an, nämlich duldsam. Ich hatte sie mir wie einen Fisch bestellt, und kaum war sie eingetroffen, suchte ich bereits das Weite. Bevor ich aufbrach, drehte ich mich noch einmal zu ihr, um sie nicht zu verpassen, die nicht ins Rollen gekommene Träne. Was soll Stephen damit anfangen?
Ich stieg aus, die Hitze stand, ich überquerte den Platz in diagonaler Richtung, tauchte in den nächsten Schatten und von dort in die Klimazone des Postamts. Der Aufenthalt war gestattet, der Gratisprospekte halber. Der chinesische Beamte am Poste-Restante-Schalter blätterte durch meinen Pass bis zur letzten Seite, dann schlug er zurück zum Foto und sah auf. Das Foto war im Sommer entstanden, in einem Passbildautomaten bei Urbino. Ich guckte komisch, weil Ricarda
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