Die Enden der Welt
Feiertages. Der Dorfälteste bietet Tee an:
»Warte, ich trinke zuerst, dann brauchst du keine Angst zu haben.«
Ehemals besang man auch den Karawanen-Tee, der eigentlich aus China stammt:
»Er hat Falten wie Tatarenstiefel, Locken wie die Wammen eines mächtigen Ochsen, Spiralen wie der Nebel, der aus einer Schlucht steigt, und er bebt wie ein See, der vom Blau des Himmels gestreichelt wird …«
Während wir trinken, schwärmen die Kinder aus, um den Ältestenrat zusammenzurufen, und da stehen sie dann, fünfundzwanzig Männer, die meisten mit Turban und in langen Gewändern, mit würdevollen, tiefernsten, auch schwermütigen Gesichtern, und mitten darin Nadia, die Exil-Afghanin, die nur mit dem Kopfschleier bedeckt, aber offenen Gesichts durch die Menge der Alten geht, dem Gemeindehaus zu, wo sie sich die Bitten des Rates anhören wird.
Der Saal ist gerade fertig geworden, der Stolz der Gemeinde. Man hat ihn in einer Anwandlung von Übermut oder Idealismus mit hellblauen Wolkenmotiven ausgemalt. Das wirkt in dieser Umgebung so befremdlich neumodisch wie ein Wellnessbad unter Nomaden.
Wir sitzen auf Kissen im Kreis. Von außen drängen immer mehr Männer in den Raum. Dazwischen wieseln die Jungen mit Tellern voller Pistazien, Mandeln, Trockenobst und Hülsenfrüchten. Es sind auch ein paar eingewickelte Bonbons auf den Tellern. Das alles kommt, ohne dass wir eine Anweisung gehört hätten. Nur berichtet Nadia später, dass man hinter den Kulissen ausgeschwärmt sei, um Zutaten für ein richtiges Essen herbeizuschaffen, doch habe man sie nicht zusammenbekommen.
Kaum ergreift sie das Wort, wird es ganz still. Die Alten mit ihren in den Lebenswinter eingetretenen Gesichtern, ihrer Zukunftsangst, ihrem Festhalten an allem, was ihnen ihre Tradition lässt, sie blicken in Nadias offenes Gesicht und sehen, wie empfindlich die Zeit sich ändert. Sie alle haben Nadias Vater noch gekannt. Deshalb fällt es ihnen wohl leichter, der Tochter zuzuhören. Sie brauchen auch kein Vertrauen zu fassen, sie haben es. Aber ihre Bitten sind groß und, gemessen an Nadias Möglichkeiten, maßlos.
Das Licht im Raum tritt plötzlich übergangslos in eine Dämmerstimmung ein. Die Alten beißen ein paar Mandeln auf, wenden aber den Blick nicht von Nadias Gesicht, forschen, was wohl von ihr zu erwarten sei für den Bau eines tieferen Brunnens, einer Schule, für die Besoldung eines Arztes, der sich der hiesigen Krankenstation annähme, denn da ist niemand.
Die meisten Krankheiten kommen aus dem Wasser, manchmal verenden Tiere im Brunnen und verunreinigen ihn, mancher ungebildete Bauer wirft einen Kadaver zur Entsorgung einfach in den Schacht, auch Malaria grassiert, und Nadia hört das alles an, geduldig wie zum ersten Mal, dabei haben alle diese Geschichten die gleiche Struktur. Blicke ohne Lidschlag befestigen sich an ihren Zügen. Viele der Gesichter sind sehr fein geschnitten, manche tendieren ins Mongolische, Asiatische. Niemand bettelt, niemand klagt, niemand ringt die Hände, rauft die Haare, verliert die Haltung.
Was ihre Versorgung angeht, so können sie sich in guten Jahren sechs Monate lang mit dem Verkauf von Teppichen und Vieh über Wasser halten, die zweite Hälfte des Jahres müssen sie aus dem Eigenanbau bestreiten. Mit dem Sonnenaufgang sind die Bauern auf den Feldern oder bei den Tieren. Sie frühstücken Brot mit Tee und, wenn sie haben, mit Milch.
Ich schreibe, was der Bauer berichtet. Mit dezenter Beteiligung blickt der Raum auf das, was mich offenbar interessiert, kaum senke ich den Stift aufs Papier, liegt ihr Blick darauf. Was hier erzählt wird, das ist doch alles ihr normales Leben. Was soll es da zu schreiben geben? Dass die Minengefahr auf den Feldern groß ist? Gewiss, aber gegen die Wölfe anzukommen ist auch nicht einfach.
Die glücklichsten Bauern sind die, die einen Ochsenpflug besitzen und eine Kuh ihr eigen nennen, auf die sie sich verlassen können. Solche Bauern können sich manchmal sogar Dünger leisten.
»Aber schmeckt es nicht besser ohne Dünger«, frage ich, und alles lacht, glücklich, dass sich Fremde so einig sein können.
Das Gespräch wendet sich dem Ackerbau zu, den Ernten, dem spät ausgesäten Reis. Hinter einer Schule haben wir ein paar Mohnblumen entdeckt. Von wo mögen diese Samen hierhergeflogen sein? Von der Straße aus hat jedenfalls noch niemand ein Mohnfeld entdecken können.
»Wir bauen keinen Mohn an«, konstatiert der Ortsvorsteher trocken.
»Und uns hat man gesagt,
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