Die Enden der Welt
du hast vierzig Kilo gewonnen aus deinen Feldern«, ruft Turab, alles lacht erneut, und dafür haut der Angesprochene dem Sprecher mehrmals kameradschaftlich auf die Schulter.
Doch sollten wir glauben, in diesen Dörfern verberge sich irgendwo ein geheimer Wohlstand, dann wären wir im Irrtum. Die Feldarbeit ist mühselig, ganz neue Dürrezeiten zerstören die Ernten, die Kinder gehen häufig schon um sechs Uhr früh in die Schule, damit sie am späten Vormittag den Eltern wieder helfen können, sei es beim Baumwollpflücken, sei es beim Hüten der Tiere.
Nadia hat inzwischen begonnen, auf einer herausgerissenen Heftseite den Antrag für einen Brunnen zu formulieren. Währenddessen rekapituliert der Älteste den gewöhnlichen Tag eines Bauern. Nach dem Mittagessen, das gewöhnlich aus Reis besteht, wird nichts mehr zu sich genommen bis zum Abendgebet. Dann gibt es Brot und Buttermilch.
»Das dehnt den Magen und macht müde«, sagt Nadia. »Wir nennen es afghanischen Alkohol.«
Anschließend setzen sich die Männer zu den Frauen, knüpfen Teppiche und erzählen sich Geschichten. Manchmal wachen sie auch über die Babys, damit die Frauen ruhiger knüpfen können. Weil die Männer mehrere Frauen heiraten dürfen, hinterlassen sie auch mehrere Witwen. So werden manche Dörfer maßgeblich von Frauen am Leben gehalten. In dem Flecken, den wir hier besuchen, gibt es kein Fernsehgerät, und einen Generator für Strom besitzt nur der wohlhabendste Bauer. Also geht man früh schlafen.
»Hat sich im Laufe der Jahre das Wetter in dieser Gegend verändert?«
»Ja, es ist insgesamt wärmer geworden. Also leiden wir unter mehr Schädlingen, und die Baumwollernten haben sich verschlechtert. Vor Jahren hatten wir immer viel mehr Schnee.«
Die Sorge weicht nicht aus ihren Gesichtern, die gegerbt sind wie Schuhe. Die Hände ruhen im Schoß, rissiges Arbeitsgerät, selbst die Füße sehen ledern und abgearbeitet aus. Der Tee schmeckt nach dem Rauch, in dem er entstand.
Inzwischen ist der Antrag für den Brunnen fertig formuliert. Jemand bringt ein Stempelkissen, und bis auf zwei Männer setzen alle ihren Fingerabdruck in die vom Sekretär mit Blockschrift notierten Namen. Einer besitzt ein Siegel. Einer wendet sich rasch an Nadia und zischt:
»Hilf mir, gib mir ein Mofa!«
Am Ende hält diese einen schmutzigen, mit Russ verfärbten, von Fingerabdrücken gestempelten Antrag in den Händen, aus dem in absehbarer Zeit ein Brunnen werden wird. Der Dorfälteste überreicht uns auf seinem Unterarm drei kostbare Mäntel in Grün und Violett von der Art, wie der Präsident sie trägt. Unmöglich, dieses Geschenk abzulehnen, sagt der Alte doch selbst:
»Wir haben zwar nichts, doch was wir besitzen und nicht aufgeben, das sind unsere Menschlichkeit und unser Stolz.«
Wir ziehen nordwärts und bewegen uns nun geradlinig durch die Steppe der Grenze entgegen, um an die Ufer zu treten, die dem kriegserschütterten Afghanistan den Rücken zuwenden. Erfasst vom großen Phlegma der Steppe, haben auch wir begonnen, uns langsamer zu bewegen – oder scheint es nur so, weil die Fläche alle Bewegungen auf ihr klein und langsam werden lässt?
In der Abendstimmung treiben die Schäfer ihre Tiere in die Ställe, die Kuhhirten die ihren an den Wassergräben entlang, zwischen den Reisfeldern hindurch oder parallel zur Straße. Dort haben auch drei Jungen eine kleine Fahrradwerkstatt aufgebaut. Sie tragen Strickwesten zu ihren Turbanen, Ton in Ton. Ihre heraneilenden Freunde zeigen auch ihre hennarot gefärbten Haare unter den bestickten Käppchen. Ein Alter schnappt sich ein entflohenes Lamm, wirft es einfach über die Mauern seines Anwesens.
Sonst ist es still an der Straße, und erst, dass wir anhalten, gibt dem Treiben einen Fluchtpunkt. Jetzt kommen sie aus den entferntesten Hütten in unsere Richtung gelaufen, und selbst die Viehtreiber bleiben mit ihren Tieren kurz stehen, während die Sonne das opulente späte Licht über den in den Feldern stehenden Wasserspiegel schickt.
Die Halbwüchsigen erzählen uns, dass sie arbeitslos sind und »ohne Zukunft«, wie sie gleich hinzufügen. Zwei von ihnen sind erst vor kurzem aus dem pakistanischen Flüchtlingslager in Peschawar in diese Gegend gekommen, die Heimat ihrer Eltern, und jetzt, sagen sie, »sterben wir hier vor Langeweile«.
Tatsächlich fällt wohl kaum jemandem die Assimilation an die arme Heimat der Eltern ähnlich schwer wie den Jungen, die eine so andere Welt in den pakistanischen
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