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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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mir eine Woche lang das Gewünschte, und einmal schaute tatsächlich Mister Fo vorbei, ein wahrer Freundschaftsdienst, denn sein Platz war die Halle, und zu sagen hatten wir uns nichts. Trotzdem hatte er mir in einem Laden mit dem Namen »Internationale Früchte« ein Pfund Pflaumen gekauft, von dem er selbst keinen Bissen essen wollte.
    Die meiste Zeit lernte ich Gedichte auswendig oder blickte an die Decke, wo mich vor allem die aus Mattglas gefertigte Linse der Lampe beschäftigte, hatte sie doch an einer Stelle nicht weit vom Rand einen etwa zehn Zentimeter langen hellen Schatten, den ich mir nicht erklären konnte.
    Reisen, so kam es mir in diesem Moment vor, das war wie die Projektion der Heimat auf die fremde Tapete. Dort findet man das Haus, das man verlässt und auslöscht, fühlt die Verankerung, die man vergessen machen wollte. Man stürzt die Regale um, man reißt die Vorhänge herunter, aber es hilft nichts. In der Fremde baut sich das Zuhause immer theatralischer auf: Verlass mich, sagt es, zerstör mich! Finde etwas, das nicht das Alte, Vertraute ist! Und dann liegt man in einem Hotelzimmer in Hongkong und fühlt, dass man sein Zuhause noch gar nicht verlassen hat, sondern alles ins Kinderzimmer verwandelt, und schließlich findet sich auf der Speisekarte des Etagenkellners die Bezeichnung »Winterliche Salate«, und man bricht in Tränen aus.
    Als ich nach einer Woche Bettlägrigkeit wieder ein wenig Balance auf meinen Beinen gewonnen hatte, stellte ich einen Stuhl in mein Matratzenlager und examinierte die Lampenschale. Sie hing so lose an der Decke, dass durch den schmalen Spalt auf der rechten Seite ein Tier eindringen und verenden konnte. Ich schaltete das Licht an, der Schatten verdunkelte sich scheinbar, aber nur wie ein welkes Laubblatt auf einer Martinslaterne. Also schraubte ich die gesamte Schale von der Decke und sah hinein.
    Was ehemals ein Gecko gewesen war, hatte sich unter dem Einfluss der Hitze, der Lichtstrahlen, der Luft, in eine Rispe verwandelt, eine bloße Gecko-Struktur, ein Gliedermännchen aus Gecko-Knochen, haarfein in den Spitzen, aber so sorgsam organisiert wie das lebende Tier. Die Atmosphäre hatte jeden Tag etwas Fleisch davongetragen und der Luft mitgegeben. Jetzt war nichts übrig als der von der Zeit gereinigte Knochenbau eines am falschen Platz irrgelaufenen und dort verendeten Reptils.
    War das »mein Hongkong«? Wo war ich wirklich, und was blieb? Während die Stadt aus der Perspektive meines Krankenbetts zu einer diffusen Impulsmasse zergangen war, behaupteten nur das leere Postfach und der tote Gecko Präsenz, und vielleicht waren sie ja eigentlich verwandt. Das Ende der Welt, wurde mir gerade bewusst, das ist auch das eigene Zuhause, von einem bestimmten Standpunkt der Fremde aus betrachtet, und weil es so ist, sind diese entlegenen Stätten, die Enden, keine Tore, durch die man aus der Welt hinausgelangt. Aber manchmal sieht es wenigstens so aus, dachte ich, und reiste am nächsten Tag ab, ohne noch einmal im Postamt gewesen zu sein.

Der Amu-Darja
    An der Grenze zu Transoxanien
    Aus der Geschichte sprengen die kurzmähnigen Pferde heran, die Steppen dehnen sich, die Sümpfe drohen. Reisende aller Jahrhunderte haben sich auf diesen Grenzfluss, der den Norden Afghanistans gegenüber dem ehemaligen russischen Reich, dem heutigen Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan abgrenzt, zubewegt, mühsam, unter Qualen und oft ohne ihn zu erreichen, weil Überfälle, Entbehrungen, Malaria, Wurmbefall, Seuchen dazwischenkamen. Maulbeerbäume und Tamarisken waren die Vorboten des fernen Flusses. Man bewegte sich in Karawanen durch die Sanddünen, und entgegen kamen aus Transoxanien, dem Land jenseits des Stroms, weitere Karawanen. Von ihren Kamelen hingen die Kanister mit dem Benzin, das man neben vielen anderen Waren aus dem ehemaligen Russland auf der anderen Flussseite bezog.
    Der Amu-Darja, im Altertum auch Oxus genannt, versammelt eine mythische Landschaft um seine Ufer, von der der Dichter Rudaki, der »Karawanenführer der Dichtkunst« genannt, im 9 . Jahrhundert nach Christus fabelt, seine rauen Ufer seien Seide unter den Füßen, seine Wellen sprängen bis zum Zaumzeug der Pferde vor Freude über den Heimkehrer. Die Reiseschriftsteller aller Zeiten raunen von den Gestaden dieses Flusses, weil es beschwerlich und gefährlich war, hierherzukommen, und weil der Blick beim Eintritt in diese Weltgegend für alle Entbehrungen entschädigen soll. Man hat eine

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