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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Vorstellung seiner natürlichen Verhältnisse, seiner Vegetation, man klaubt sich zusammen die Bruchstücke alter Erzählungen und mündlicher Überlieferungen. Aber noch ist alles unbevölkert, noch fehlen der Landschaft ihre Gesichter, und das Herkommen des Flusses liegt im Verwunschenen – so wenigstens sprechen die Reisenden, die ehemals die Ufer des Amu-Darja erreichten.
    Marco Polo hat hoch oben im Pamir die Quelle des Stroms besucht, und am 19 . Februar 1838 steht hier der britische Leutnant John Wood, auf dem »Dach der Welt«, wie er es nennt, über dem See des Bam i Dünjah oder des Sir i kol, wie die Kirgisen den Quellsee des Amu-Darja tauften, während sich vor dem staunenden Fremden die »gefrorene Wasserfläche erstreckte, aus deren westlichen Ende der junge Oxus entsprang«. Der schöne See, so schrieb er, besitze die »Form eines Halbmondes«.
    Doch von hier aus ist es noch weit bis zu den Tälern Nordafghanistans, und der Reisende fragt sich: Wie willst du diese Grenzen überqueren, die Berge, die Flüsse, die Gefechtslinien, zuletzt durch die Steppe kommen, wo die Bewegung immer ziellos scheint. Das ist ihr Schönes. Und wenn es einer wie Robert Byron bis an den Oxus schafft, dann hat er geschwärmt und zurückgeblickt auf die armen Schlucker, die verendeten, bevor sie ihn erreichten.
    Lange war die Gegend um Kundus gefürchtet. Des sumpfigen Geländes und Klimas wegen sagte man: »Willst du sterben, gehe nach Kundus.« Als sich dort aber seit den siebziger Jahren des 20 . Jahrhunderts eine urbane Kultur entwickelte, in der sich die einheimischen Stämme und die ausländischen Volksgruppen bis zu den internationalen Hippies Museen, Kinos, Theater, Sport- und Vergnügungsstätten teilten, da wurde die Region, in der man Reis anbaute, Seidenraupen züchtete, Lapislazuli gewann und Rubine förderte, mit einem neuen Motto versehen: »Willst du leben, gehe nach Kundus.« Eine blühende, künstlerische, liberale Stadt war dies, in der Koranschüler, indische Sikhs, Bikinimädchen und Kiffer nebeneinander lebten.
    Wir lassen hinter uns die gegerbte Haut der Mauern aus Lehm, die bersten wollen im Frost des Winters und dann erneut unter der Glut des Sommers. Vor den Stadttoren werden die Felder geflutet, damit ihre steinharte Oberfläche einmal nachgibt und dem Wasser einen Weg ins Erdreich erlaubt, und am Ufer stehen die Ochsen und recken ihre zuckenden Rücken den Bürsten der Kinder entgegen.
    Wir passieren die ersten Sandfestungen von ehemaligen Flüchtlingen, die über die Straße von Kandahar wieder in ihre Heimat zurück in den Frieden gekommen sind. Doch was finden sie: versteppte Felder, zusammengebrochene oder kaputtgeschossene Häuser, gekappte Verbindungen zur Strom- und Wasserversorgung. Sie finden sich zusammen, verteilen ihre Behausungen am Rand eines Gewässers und nehmen die Arbeit des Überlebens auf.
    Die Steppe breitet sich aus wie Wüste, die Siedlungen sitzen darin wie Oasen. Nomaden ziehen vorbei, verkaufen Kamelfelle, Ziegenkäse, Stoffe. Kinder schwärmen aus, tragen das Wasser auf dem Kopf heran. Sie gehen ins Endlose, so, als liefen sie in die Erdkrümmung hinein. Manchmal ein Weiler, ein Busch mit wenigen Hütten dabei, ein umfriedeter Hof mit Brunnen und Ofen dicht an dicht. Alte, die erst um dies Leben, dann um ihre Existenz zu kämpfen gelernt haben, Junge, die unter der Last des vorstellbaren, von Bildern herangetragenen Lebens fast zusammenbrechen, und das alles wächst auf Wüste, auf Fels, auf Staub, auf dem Fast-Nichts.
    Wir biegen wieder auf die große schwarze Straße ein, die durch das Hellgelb der Steppe führt. Im Wagen sitzt jetzt ein Alter mit einer Stimme wie eine Orgel, einer, der die heimlichen Wege zu den scheuen Usbeken, ja, der sie selbst kennt und versuchen wird, uns einen Weg in eines ihrer Dörfer zu bahnen. Wir fahren lange. Am Horizont, das könnte Dunst sein oder die Sphäre vernebelter Hügel, es könnte eine Erscheinung sein. Nach zwanzig Minuten kommt die erste Kurve.
    Von der befestigten Straße biegen wir in dieses Nichts ab. Über Bodenwellen, durch Senken und über Hügel geht es, wir fahren in einem Schwarm aus Staub und Sand, dann abseits über den weichen Boden der Steppe, der wie gepresstes Stroh nachgibt unter den Füßen.
    Endlich eine Ausbuchtung, eine kleine Anhebung der Horizontlinie. Das sind die Schafherden, bewacht von einem jungen Hirten, der auf einem Sandhügel schläft, einem zweiten, der zu Pferde gemächlich im Kreise trabt,

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