Die Enden der Welt
paar Jahren aber kam ans Tageslicht, dass er sechs Pässe besaß und doppelt so viele Namen. Auch soll einmal ein U-Boot in der Bucht aufgetaucht sein, mit dem er Funkkontakt unterhielt. Als diese Dinge durchsickerten, setzten sich die Behörden auf seine Fährte, und er musste fliehen. Der König, tief verstört, machte kurzen Prozess und ließ ohne weiteres das Haus des rätselhaften Deutschen dem Erdboden gleichmachen. Als wollte er so auch die Erinnerung an den Mann löschen. Unter dem Haus fand man ein riesiges Loch, vermutlich ein Verlies. Doch für wen? Wenig später wurde der Flüchtige dann auf einer Nachbarinsel von hinten erschossen. Herausgefunden hat man nie, wer er wirklich war.
Wir kehren heim zum Wohnhaus der Mutter, die Trauergesellschaft hat sich zerstreut. Alle warten auf die Ankunft des Sargs, den das Schiff am frühen Nachmittag bringen soll. Douglas macht sich an die Kondolenzbesuche.
In einem Dorf, das sich selbst überlassen ist, bin ich mir nun ebenfalls selbst überlassen: freilaufende Hühner, freilaufende Schweine, freilaufende Fremde. Auch hier gibt es kaum Zäune. Auf der ganzen Insel liegt alles verstreut wie auf einer opulenten Rasenanlage mit Schweinen und Hütten und Rauchsäulen, mit Erzählungen und Liedern. Wir haben heute schon alle Wetter gehabt, und keines wollte bleiben. Die Wolken treiben rasch.
Fragt man mich nach meinem idealen Weg, er ist hier: hell oder rotbraun, ohne Befestigungen, Palmen stehen unregelmäßig, Ferkel queren dann und wann. Man hört den Wind, Kindergeschrei, eine Axt, einen Hahn, in den Feldern zu beiden Seiten stehen die Mangobäume mit ihren breiten Blätterdächern. Die Hütten sind von Blumenbeeten umgeben, in denen die exotischsten Pflanzen wachsen, Schmetterlinge von nie gesehener Größe und Farbe wirbeln von den Bananenstauden. Die Stimmen der alten Frauen knattern im Wind wie Fahnen. Du hörst deine eigenen Schritte, du bleibst stehen, es ist still und vollkommen.
Wir nehmen den Familienwagen zum Hafen und warten auf den Pollern. Die Männer torkeln heran, wie vom Eigengewicht belastet. Schwarz Gekleidete, in Matten Gehüllte, lauter sich ernst Verneigende und ehrerbietig Grüßende sammeln sich am Hafen.
Als das Schiff anlegt, sind Leah und Stephen die Letzten, die das Land betreten, bevor der Sarg herausgehoben wird. Sie schleichen blass und konzentriert auf eine Gruppe von Einheimischen zu, die ihnen nicht einen Schritt entgegenkommt, sich aber gleich um beide schließt, so dass ich keinen Blick mehr auffangen kann. Im Pulk treiben sie zu Fuß den Schotterweg hinab, und ich frage mich, wie sie die eigenen Verschwörungstheorien mit der großen Ordnung der Tabus synchronisieren werden.
Der geschmückte Sarg verlässt als Letztes das Schiff. Wo die Planke den Quai trifft, stehen sie alle in Schwarz, in den grotesken Wülsten ihrer Bast- und Mattenkleidung, die sie manchmal umständlich umgekrempelt haben. Speziell Douglas hat in seiner Matte, die dreckig und ausgefranst ist und immer wieder aufspringt, den Charakter gewechselt. Er ist komisch, und wenn die Frauen an seiner Verschalung nesteln, sieht er zu wie ein Dorfdepp. Doch einmal liegen seine beiden Hände mit allen neun Fingern auf einem Gatter an der Mole. Seine Nichte blickt hin, ich blicke hin, wir blicken uns in die Augen. Ein Tabu wäre kein Tabu, wenn er uns einfach sagte, was damals geschehen ist.
Der Sarg wird auf einen geschmückten Wagen gehievt und auch gleich mit Matten bedeckt. Die Frauen sitzen zu seinen Seiten, als er sich in einem langsamen Konvoi, begleitet von der Polizei, auf die letzte Reise macht. Er wird auf dem Rasenplatz stehen, im Zentrum des großen Gelages, zu dem die Gäste ihre guten Erinnerungen an die Tote und die Hinterbliebenen das Essen beitragen. Die ganze Nacht hindurch bis zum Sonnenaufgang dürfen sie die Feuerstelle nicht verlassen, ist es doch die Aufgabe der Familie, alle Trauergäste ununterbrochen mit Speisen zu versorgen.
Im Morgengrauen endlich, als die Geschichten der Besucher verstummt und die Lebensgeister erloschen sind, darf auch das Feuer erstickt werden. Der Toten wurde Genüge getan. Es war ein schöner Abschied, ein würdiges Fest, die Verschiedene möge in Frieden ruhen.
Als ich am nächsten Mittag in mein vertrautes »Beach Café« in Nuku’alofa einkehre, sitzt Kerry schon da. Sie gabelt ihre Spaghetti gerade einzeln aus einem Fischsud und winkt mich heran.
»Sie haben es gehört, oder? Es musste passieren. Ich habe immer
Weitere Kostenlose Bücher