Die Enden der Welt
grandmother?«
Wir ergriffen jeder einen Tiegel, zündeten die Kerzen an und tasteten ins Nebenzimmer, wo sie gleich hinter der Tür in einem Bettchen lag, seit einem Jahr einbalsamiert, ihr Torso so eingefallen, als habe man ihn ausgeweidet. Die Wangen glänzten mit einer gelbbraunen Patina. Aus geschlossenen Augen starrte die Greisin in den Lichtschein.
»You can take photo«, flüsterte Michael.
Erst wenn das Geld für den Erwerb einer angemessenen Zahl an Opferbullen zusammen ist, und weniger als zwanzig sollten es nicht sein, wird man die Alte bestatten können. Dann ist ihr Auskommen im Jenseits gesichert, und erst dann wird man über ihren Tod weinen, ganz, als sei er erst gestern eingetreten.
Am folgenden Tag begleiteten wir den Dorfältesten – ein weißes Christenkreuz prangte auf dem Deckel des schwarzen Sarges – auf seinem letzten Weg, eine lockere Prozession, die durch die Reisfelder zog, ein Rinnsaal der Trauernden, die mal abreißen ließen, mal wieder in Haufen standen, wo bei einem Wasserlauf die Furt schwer passierbar war. Dann sah man den Sarg auf den Schultern der Träger erst schwanken, dann wie aufgerichtet stehen. Aber die Sonne schien, die Lerchen stiegen und die Idylle war perfekt.
Eine gute Stunde später waren wir am Fuß der Felswand angekommen, wo die Totenschädel in Haufen am Boden lagen und die hölzernen Götzen oben aus ihren Höhlen starrten, ein Missionar mit Tropenhelm war auch darunter. Da aber hatte mich mein Begleiter schon allein vorgehen lassen.
»Ich habe ein krankes Kind daheim, da geht man besser nicht am Felsengrab vorbei.«
Nun wurde der Sarg in eine der Höhlen in der Wand gehievt und die Zeremonie abgeschlossen. Die Zeit des Wartens auf diesen Moment hatte ein Ende. Erleichterung lag in der Luft, und Michael erklärte mir auf dem Heimweg, westliche Frauen hätten natürlich größere Brüste als die Asiatinnen, weil sie ursprünglich ihre Kinder auf dem Rücken getragen hätten. Um sie zu säugen, hätten sie ihnen die Brüste über die Schulter zuwerfen können. So redete er vor sich hin. Die Prozession hatte sich zerstreut und bewegte sich im ungeordneten Rückzug der Grüppchen wieder auf das Dorf zu, und während die Sonne umflort unter die Hügellinie sank, dachte ich, dass in diesen letzten Stunden ein »unforgettable moment« dämmerte.
Wenige Tage später – ich war inzwischen in den Norden Sulawesis vorgedrungen – trat ich den Rückweg an und nahm den Nachtbus nach Ujung Pandang. Acht Stunden Fahrt lagen vor mir, die ich auf der Rückbank dieses alten, robusten Vehikels mit seinem abgeblätterten gelben Anstrich und seinen ochsenblutfarbenen Kunstledersitzen durchstehen würde. Die Passagiere brachten geflochtene Körbe, Kanister, Rattanmöbel, Säcke mit Gewürznelken, ganze Trauben farbiger Plastiktüten, Obst und Eier ins Innere. Durch die offenen Fenster wurden Wassereis und Kokosschiffchen gereicht, Klebereis und Bisquits, und der Familienvater neben mir breitete eine Decke aus und bedeckte damit seinen Schoß und den seiner beiden kleinen Söhne. Dann führte er, wie auch andere Einheimische, ein Tuch vor die Nase, denn der Geruch der Europäer ist für manchen Asiaten unausstehlich.
Der Bus schaukelte noch nicht lange in die Nacht, da erbrach der erste der Jungen seine Portion Wassereis, dann der andere die seine. Sie würgten ihre Speisen nicht heraus, sie husteten nicht, vielmehr fielen ihnen die anverdauten Mahlzeiten aus dem Gesicht und in die Decke, die der Vater offenbar zu diesem Zweck ausgebreitet hatte. Es dauerte nicht lange und die Frau auf der Bank vor uns tat es den Kindern gleich, und auch aus dem vorderen Busteil war schon das leichte Röcheln der Erbrechenden vernehmbar. Der Fahrtwind trieb den Geruch des Vergorenen mal nach draußen, dann in lauter Verwirbelungen zwei Fenster dahinter wieder nach innen. Das Ganze tat der guten Stimmung, den hin und her laufenden Unterhaltungen, dem Gelächter keinen Abbruch.
An der darauffolgenden Haltestelle erhielten die Kinder ihre nächste Portion Wassereis, und ich überlegte, wie ich dem Vater erklären könnte, auch diese werde zwangsläufig den Weg allen Eises gehen. In meinem Indonesisch-Deutsch-Wörterbuch aber fanden sich die Worte »Magen«, »nüchtern«, »Brechreiz« oder »gute Besserung« nicht, dafür »die Spritfahrt«, »der Leichdorn«, »der Maulchrist«, »der Gänsewein«, »die Denkkraft«, »die Pfeffermünze«, »Zitz«, »Vane« und »Betastung«. Sogar
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt