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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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»die zwerghafte Stapfe« gab es, der ich außerhalb dieses Wörterbuches nie mehr begegnet bin. Als ich mich dem Vater also pantomimisch verständlich machen wollte, lachte er nur begütigend, »das macht nichts«, und rollte, als sich der nächste Schwall ankündigte, die Kotzdecke nur ein Stückchen weiter zusammen, so dass sich die Jungen jetzt in eine frische Rinne erleichtern konnten.
    Inzwischen war die Nacht da, und die Sterne standen so tief, dass man sie mit den Lichtern in den Bergen verwechseln konnte. Die Kinder schliefen. Wer sich im Gang die Beine vertrat, tat es nicht, ohne die Füße zu heben, um den Strömen des Erbrochenen auf dem Boden auszuweichen. In halsbrecherischem Tempo donnerte der Fahrer die Schotterstraßen abwärts. Er wollte ankommen, musste er doch schon im Morgengrauen die Strecke wieder in umgekehrter Richtung antreten. Über die längste Zeit sah man keine Straßenbeleuchtung, keine Siedlung, fuhr nur unentwegt in den Lichthof hinein, der vor dem Wagen tanzte. Ich kauerte mich neben den Fahrer, es reichten ein paar Freundlichkeiten und das Gefühl, dass wir uns gemeinsam wachhalten würden.
    Trotzdem schreckte ich aus einem Dämmerzustand hoch, als es einen Schlag tat, gleichermaßen dumpf und metallisch, und auch als der Fahrer mit einer abrupten Ausweichbewegung reagierte, um die Wucht des Aufpralls noch nachträglich zu kompensieren, flog ich mit, ohne meine Körperbeherrschung zurückerlangt zu haben.
    Der Bus kam am Rand eines Maisfeldes zum Stehen. Hell schien der Kiesweg im Scheinwerferlicht, die Böschung saftig grün, der schwüle Wind schmeckte in seinen Obernoten nach Blüten und Gras. Allerdings lag ein schwarzes Herrenfahrrad mit verrenktem Lenker und einem auf dem Gepäckträger vertäuten Sack in der rechten Böschung, während in der linken der Greis lag, der hier sein Leben gelassen hatte, auch er verbogen, wie zu einer manieristischen »Figura Serpentinata« gekrümmt, den kahlen Schädel dem Mondlicht zugewandt mit unkonzentriertem, abwesendem Gesicht. In seinem Schritt hatte sich ein nasser Hof ausgebreitet.
    Die Fahrgäste stolperten jetzt hinter uns ins Freie. Einer trat zur Leiche und drehte den Alten pietätvoll um, dessen Gesicht in einem Ausdruck stehen geblieben war, der eine Pantomime für Zahnschmerz hätte sein können. Andere blickten nur kurz hin, vertraten sich aber die Beine oder machten Dehnübungen, während der Familienvater an der Böschung die Kotzdecke abwischte.
    Da dem Toten jetzt und hier nicht mehr zu helfen war, legte man ihm bloß ein paar Maisblätter auf das Gesicht, bettete hilflos das Fahrrad an seine Seite, als sei es seine Frau, und merkte sich die Stelle, auf die man die Polizei von Ujung Pandang aus aufmerksam machen könnte. Dann wurde die Fahrt fortgesetzt.
    Als wir in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages in Sulawesis Hauptstadt ankamen, hatte ich Geburtstag, leistete mir nach langer Zeit das erste gute Hotel und konnte gerade noch die Fassung bewahren, als der Rezeptionist meinen Pass entgegennahm, die Daten eintrug, dann seine Hand über die Theke streckte und sagte:
    »Happy Birthday.«
    Nach dem Duschen schlenderte ich ins Hauptpostamt, nahm fünfzehn Briefe in Empfang und öffnete sie auf dem weichen Hotelbett einen nach dem anderen, langsam lesend, damit sie sich nicht so schnell verbrauchten. Der letzte trug den bekannten Kölner Absender, und ich lachte schon, als ich am gerahmten Briefbogen die Heiratsanzeige erkannte.
    Beim zweiten Hinsehen aber war es eine Todesanzeige, die in wenigen Worten sachlich mitteilte, dass mein Freund Hannes vor etwa einem Monat gestorben war. Keine Zeile mehr, keine Erklärung. Die Beerdigung war natürlich längst vorbei, ich las aber jedes auf dieser Briefkarte gedruckte Wort gleich mehrmals, weil ich dachte, es gebe mehr zu erfahren, kam aber nicht weiter. Zum ersten Mal blickte ich heimwärts und fand nur Leere, sah ein Trauerzimmer, in dem sich alle voneinander wegwandten, sah den Zug der Beerdigung, bei dem alle auf den Boden blickten, sah die verweinten Gesichter und stellte mir vor, dass am Grab jemand eine Charlie-Parker-Platte aufgelegt hatte. Wir hatten in Europa schließlich auch unsere Rituale, und Hannes besaß den Mutwillen, sie zu brechen.
    Ich hatte es nicht ahnen können, aber jetzt schien mir, als sei ich von Anfang an auf dem Weg zu dieser Nachricht gewesen, einen Stufenweg hinunter, vom Töten der Büffel und den Riten über den Anblick der mumifizierten

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