Die Enden der Welt
Modell, das chemische Modell meiner persönlichen Unvernunft unter mir und gebar das Wort »Ich« als das Symptom einer Störung. Was »Bewusstsein« hieß, war jetzt nichts als eine in ihrer Einzigartigkeit faszinierende Wunde, die kein Trägermedium hatte und auch nicht heilte. Erst sieben Stunden später lösten sich die Phantasmen ab, und ich erwachte aus dem »Es denkt« in die Illusion des »Ich denke«.
Orvieto
Die fixe Idee
Die Trattoria Giusti in der Via Giuseppe Giusti war die Küche vieler, die in den späten siebziger Jahren in Florenz studierten oder als Langzeitreisende in der Stadt gestrandet waren. Ich studierte am Kunsthistorischen Institut und verdiente mein Geld als Reiseleiter. Meine Freunde waren zwei weitere Studenten, ein Uffizien-Wärter, eine sienesische Apothekertochter und ein kanadisches Journalistenpärchen.
In der Trattoria standen nur zwei lange Tische, und eine Speisekarte gab es nicht. Man nahm an einem der Tische Platz, saß oft unter Fremden oder mischte Freunde mit Fremden, wählte zwischen Fisch oder Huhn und überließ den Rest dem Wirt.
Der erste Besuch, der sich von zu Hause aus zu mir nach Florenz aufmachte, war eine Frau, die – ich weiß nicht, warum – »Matubi Hühnchen« genannt wurde, eine große, blonde, schüchterne Frau, die meine Ausgelassenheiten meist mit dem Satz quittierte: »Da muss ich ja lachen!« Aber das musste sie nicht.
Zu Hause hatte sie in der Dachetage über einer Konditorei gewohnt. Alle Zimmer bis auf das ihre waren frei, das heißt, es fanden sich dort Betten und muffige alte Möbel, und wenn wir uns lieben wollten, suchten wir immer einen anderen Raum aus. Anschließend setzte sich Matubi nackt auf das Brett im offenen Fenster und inhalierte den Duft der Backwaren, der auch nachts hinaufzog. Ihr schneeweißer Körper und der Konditoreigeruch vermischten sich so, dass mich noch in Florenz warme Backwaren mit Sommerliebe und Heimweh infizierten. Allerdings war dieses nackte Sitzen am Fenster die einzige ganz befreite Handlung, an die ich mich bei Matubi erinnern kann.
Das änderte sich auch nicht, als sie mich in Florenz besuchte. Alle ringsum gehörten irgendwie zur Boheme, uns beiden aber fehlte zumindest der Duft der Backwaren. Am zweiten Abend sagte ich im Vin-Santo-Rausch zu ihr:
»Jetzt habe ich Lust, unsolide zu reden.«
Und sie erwiderte: »Das können wir ja später noch machen.«
Am zweiten Abend führte ich sie in die Trattoria Giusti, wo wir uns rasch umgeben sahen von einer Gruppe amerikanischer Touristen. Einer von ihnen, Peter, ein Maler, schwamm durch die europäische Kunst wie durch eine Nährflüssigkeit. Vor allem interessierte ihn der katalanische Informelle Antoni Tapiès. Von diesem trug er Reproduktionen im Portemonnaie, und er konnte uns in der abgerissenen Trattoria die Winkel zeigen, in denen der Verfall der Materialien so interessant war, dass Tapiès sicher ein Auge darauf geworfen hätte. Peter wollte Schüler von Tapiès werden, hatte ihm auch schon drei künstlerische Briefe geschrieben, mit denen er ihm, artistisch formuliert und mit verrückten Metaphern geschmückt, eine Einladung nach Spanien hatte abringen wollen. Alle drei Briefe blieben unbeantwortet.
Inzwischen interessierte sich Peter aber auch für griechische Philosophie, ließ sich die Kunsttheorie Platons erläutern und den Bau der Ideen im Neuplatonismus. Es war ein sehr animierter Abend in der Trattoria. Getrunken wurde reichlich, die Themen bewegten sich frei zwischen Reiseeindrücken, biographischen Splittern, Kulturkenntnissen, Witzen, und jeder trug bei, was er konnte. Am Ende des Abends war überraschend nur, dass niemand darauf bestand, Adressen zu tauschen. So sollte er sein und bleiben, der singuläre, unwiederbringliche Abend, zu dessen spätester Stunde Matubi mir eröffnete, dass wir keine Zukunft hätten und dass sie vorzeitig abreisen werde.
Wochen später war mir mein Sechs-Quadratmeter-Zimmer zu klein geworden, und ich wechselte in eine Wohngemeinschaft mit zwei Amerikanerinnen, einer Argentinierin und einem Türken. Die Argentinierin, Anna-Maria, war in ihrer dunklen Pracht eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte. Nachmittags empfing sie mehrmals in der Woche ihren Liebhaber, einen kleinen Neapolitaner namens Luigi. Der legte Ravels »Boléro« auf und schaffte es, ein Meister seines Fachs, dass sich die Liebenden in der Steigerungsbewegung der Musik selbst steigerten, so dass sich das Crescendo des Orchesters
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