Die Enden der Welt
betrunken, hatte aber fast alle Gemälde abgesetzt und konnte eine Fahrkarte nach Rom und seine Schulden bezahlen. Don Carlo nickte voll Genugtuung: Trotz seines hübschen Aussehens war dies ein guter Junge, der ihm nichts schuldig bleiben würde. Er hatte es gewusst.
Ab Mittag standen wir auf der muschelförmigen Piazza del Campo in Siena, wo die Rennbahn schon abgeteilt und bald auch der Platz geschlossen worden war, so groß war der Andrang. Der Rote-Kreuz-Wagen umfuhr das Oval und sammelte die Ohnmächtigen auf. Auf dem Platz wurde in kleinen Gruppen gespielt, gegessen, geschlafen, gestritten.
Als die Reiter in ihren folkloristischen Trachten – jeder einzelne Repräsentant seines Stadtviertels und mit dem Wappen seiner Contrada geschmückt – nervös auf die Einführungsrunde geschickt wurden, schrie die Menge bereits für den »Turm«, den »Widder«, die »Schnecke«, die »Welle«, die »Giraffe«, den »Panther«, den »Drachen« und so fort.
Das Rennen selbst ging als der Palio der sieben Fehlstarts in die Geschichte ein. Der Jockey der »Giraffe« verletzte sich im Getümmel, musste vom Roten Kreuz auf der Trage von der Bahn geschleppt werden, sprang aber plötzlich, kurz vor dem geöffneten Rachen des Krankenwagens, von der Trage, eroberte sein Pferd und gewann das Rennen. Die anschließenden Tumulte mündeten in eine Straßenschlacht zwischen den Vierteln »Giraffe« und »Turm«. Peter und ich schafften es zwar, die Balustrade zu überspringen, die den Platz von der Rennbahn und den hinteren Gassen trennte, und in eine der Seitenstraßen zu entkommen, dort aber waren eben die zwei Hauptfronten der Schlacht aufeinandergetroffen. Wir drückten uns also mit den Rücken an die Häuserfront und ließen die Kohorten mit erhobenen Stöcken und Fäusten ineinanderlaufen, während die Anwohner aus den oberen Stockwerken aus Eimern kaltes Wasser über die Erhitzten schütteten.
Eine der jungen Frauen, die wie wir zwischen die Linien der beiden feindlichen Fronten geraten war, fiel unmittelbar vor unseren Füßen in Ohnmacht. Wir ergriffen sie rechtzeitig, stellten sie hinter uns aufrecht an der Wand ab und warteten, bis die Kämpfenden an uns vorbeigezogen waren. Das Gewühl verlief sich, das Mädchen erwachte, und auf beiden Seiten eingehakt, ließ sie sich zu einem Café in einer Seitenstraße bugsieren.
Bernadette war als amerikanisches Au-pair nach Rom gekommen, auf der Suche nach etwas Künstlerischem. Gefunden hatte sie die Liebe, verloren hatte sie sie auch. In ihren Erzählungen gab diese Liebe nur noch schwache Aromastoffe ab, und indem sie ihre langen braunen Locken in Bahnen zwischen den Fingern striegelte und mit ihren Augen unsere Augen festhielt, war ihr selbst klar, dass das Leben wieder in eine Romanze einbiegen sollte, einen Coup de foudre, eine Verrücktheit, wie sie nach einer Straßenschlacht im sommerlichen Siena, an der Seite zweier Fremder, geradezu auf der Hand lag.
Als die Nacht herunterkam, hatte Bernadette keinen Schritt getan, bei dem sie nicht von uns zu beiden Seiten untergehakt gewesen wäre. Sie hatte uns paritätisch geküsst, und kaum verschwand einer auch nur kurz in einem Laden oder auf der Toilette, gab sie dem anderen einen Kuss so heftig und nass, dass er sich auserwählt fühlen musste. Ja, ihre Küsse waren verschwenderisch und maßlos, sie stürzte sich mit einem Kopfsprung in jeden einzelnen von ihnen und legte einem dabei noch die nackte Armbeuge um den Nacken, damit der Kopf ja nicht ausweichen und sie alles noch besser genießen konnte. Wenn sie einen Kuss abgeschlossen hatte, warf sie den Kopf in den Nacken und lachte guttural, was ein bisschen irr, ein bisschen schmutzig, ein bisschen stolz klang, und manchmal wischte sie sich selbst mit dem Handrücken die Lippen ab. Sie wollte uns verrückt machen, beide, und wir sollten fühlen, wie an diesen Küssen noch dieser Mädchenkörper hing, der sich schmiegte, während die Zungen sich im Rachenraum umeinanderwälzten.
Kurz vor Mitternacht hatte sich die Geschichte so weit entwickelt, dass an Trennung nicht mehr zu denken war. Bernadette machte jetzt kein Hehl daraus, dass sie am liebsten unzertrennlich geblieben wäre. Wir sollten uns eine Wiese außerhalb der Stadt suchen und dort gemeinsam die Nacht verbringen. Als wir zögerten, lief sie ein paar Schritte voraus, hob ihr T-Shirt fast auf Höhe ihrer Brüste, beugte sich vor und fragte:
»Na, wer will mich?«
Männer mögen und fürchten solche Frauen,
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