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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Manie, fixe Idee werden und die Bewegungen des Bewusstseins im immergleichen Scharnier arretieren? Das also ist die Struktur der Angst, sie ist das ausbruchssichere Gefängnis der immergleichen Gedanken und Bilderfamilien.
    Manche inneren Abläufe organisieren sich ungefragt als Oper: Alles reißt die Münder auf, auch Bäume und Maulwurfshügel. Dann gehen sie automatisch in Zeichentrickfilme über: Alles wird buntflächig und hektisch und kräht. Später wird sich die Welt in Spitzweg verwandeln, schließlich in Stummfilm. Dann kostet es eine schwere, bewusste Anstrengung, eine dieser Bilderfamilien zu verlassen, wobei sich der Spitzweg wieder in den Zeichentrickfilm zurückverwandelt und dieser erst El Lissitzky werden will, dann eine Ansammlung technischer Module.
    Manches verwandelt sich durch eine spontane Metamorphose auch in Musik – die eigenmächtige Herausbildung von Tonlandschaften, die sich aus den Geräuschen von außen zusammensetzen, befreien und selbständig machen. Außerdem werden sie noch von Bildströmen begleitet, einem dauernden wechselseitigen Assoziieren von Bildern und Tönen. Legt die Imagination einen Hügel in die innere Landschaft, folgt die Musik mit einem Crescendo; wird die Landschaft dramatisch, beschwichtigt die Musik und verwandelt sie in einen arkadischen Ort mit Bachläufen, Kühen, Schäfern und Hirtinnen: »O Täler weit o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt …«
    Der Rausch ist eine Art Mikroskopie, und wenn die Angst überhaupt erahnbar ist, dann als ein Herausvergrößern von Spurenelementen, ein Absolutwerden von Nebensachen. Schon trinke ich parfümierte Tränenflüssigkeit, schon verdünnt sie sich zum Nebeldunst, schon bricht sich das Licht durch die Nacht, wie eine Tablette durch die Stanniolfolie gedrückt wird.
    Sag mir jetzt, Kopf, wie hieß das Mädchen zur Linken auf der ersten Schulbank des Lebens: Maria Deussen, dann Monika Schmitz, Michael Schlohbohm, Jörgi Longwitz, Anita Heister, Ursula Bartmann und so immer weiter, die Namen treffen ein, einer nach dem anderen, gepackt in Kleidchen, Hosen, Stoffmuster, die es nicht mehr gibt, Gewebe, die fadenscheinig geworden sind, Gerüche, die alten Textilien, Mottenkugeln und Holzmehl gehören.
    Aber nein, der Rausch will Bilder fördern, sie aus den Kammern der Erinnerung nach oben spülen und von dort zurück ins Vergessen: Behalte mich nicht, flüstert er, vergiss mich, geh in deine Gegenwart. Doch wenn ich nun einen Stift nähme, um die Namen der ehemaligen Banknachbarn aufzuschreiben, dann wüsste ich im Augenblick, da sich die Spitze der Kugelschreibermine auf das Papier senkt, nicht mehr, was ich schreiben wollte. Stattdessen wäre ich ganz bei der insektenartig schillernden Kulispitze, und eben auf dieses Kügelchen konzentrierte sich nun ein unerschöpfliches Gegenwärtigwerden.
    Ich lag in dieser Hütte, den polyphonisch rauschenden Wald Nordthailands als Kokon um mich, und wenn ich mich drehte, so fand ich eine Welt pro Seite, auf der ich lag. Ich drehte mich wie im Umblättern. Auf der einen Seite die Volksschule, der Heimweg, der Küchengeruch nachmittags. Auf der anderen Seite ein italienisches Kloster unter der Hügelkuppe von Settignano: Don Gabriello in seinem Bett, in mehlwurmfarbenem Trikot, doch dazwischen … Ich sank.
    Eben noch waren da Bilder gewesen, von einer inneren Bewegung, einer Rührung getragene Bilder, dann kamen die notdürftig verbundenen, zwischen denen sich ein Miasma ausbreitete, Atmosphäre, Klima, Aroma, Sound. Wenig später blieb allein dieses »Zwischen«. Die Verbindungslinien vom einen zum anderen flattern, straffen sich, die Streben zwischen den Modulen werden weich und flexibel, der ganze Bau der inneren Bilder steht vor dem Kollaps.
    Es ist Jetzt: Endlich ist das Auge angekommen in der Vogelperspektive über dem Baukasten des eigenen Innenlebens. Nichts wie Intelligenz existiert da noch. Was bleibt, ist allein das Konstruktionsprinzip unpersönlicher Verbindungen, die ihre Wege nehmen, und in einem wohlwollenden, von keiner Einschränkung bedrohten Anerkennen wird man gewahr: Das Persönliche ist unpersönlich, Angst leitet oder etwas, das den Namen Angst erhalten hat, Angst führt die Regie über Lust und Unlust, sie sagt: Geh nicht von A nach B, der direkte Weg ist nicht die Luftlinie, sondern der Fluchtweg. Alles vermeintlich Inspirierte ist nichts als eine Art, Umwege einzuschlagen, auszuweichen.
    Und so lag das

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