Die Enden der Welt
aufgeschlossen, Signorelli aber ließ ihn unbeteiligt, vor allem der anatomisch überpointierten, unsinnlichen Körper wegen mit ihren himmelwärts gewandten Häuptern. Abgestoßen von der schwachen Materialität des Fleischlichen, dem Desinteresse des Malers am Stofflichen, holte er zu einem Lob des großen Tapiès aus, der gerade im Stofflichen, Materiellen …
»Du solltest ihm unbedingt noch mal schreiben!«
Wir verbrachten nicht sehr lange Zeit vor dem »Jüngsten Gericht«. Weit eher zu Hause fühlte sich Peter unter den archaischen Resten der Etruskerzeit. In Orvieto findet man sie in Mauern und Toren, Grabbeigaben und Stelen. Sie wirken bisweilen wie aus Urformen der Kunst herausgetrieben, und so raffte ich – ganz der Reiseleiter – an Wissen zusammen, was verfügbar war:
»Das bedeutendste Monument aus der etruskischen Blütezeit der Stadt ist der Sakralbau des Tempio del Belvedere, der vermutlich zu Anfang des fünften vorchristlichen Jahrhunderts errichtet wurde. Dieser feierliche Komplex, absichtsvoll über dem Panorama des Paglia-Tals errichtet, erhebt sich mit seinem Podium auf einem natürlichen Felssockel. Eine Freitreppe führt zwischen die beiden vorgelagerten Säulenreihen, hinter denen nebeneinander drei gemauerte Zellen liegen. Aus der Position der Anlage hat man geschlossen, dass hier die Haruspices, die Eingeweide-Schauer und Zeichendeuter, ihre Blutopfer brachten. Auch zahlreiche Terrakotta-Funde aus etruskischer Zeit wurden hier geborgen, hauptsächlich kleinere Verzierungen des Baus, die Bronzestatuette einer Tänzerin, aber auch größere figürliche Reliefs, in denen man den Einfluss des Phidias und Übereinstimmungen zum Parthenon-Fries erkannte.«
Als besonders reichhaltig erwiesen sich die etruskischen Grabkammern in den Tuffsteinwänden rings um Orvieto, etwa die von Crocifisso del Tufo und von Cannicella, doch mehr noch: Als vor Jahren ein Erdrutsch einen Teil des Tufffelsens, auf dem die Stadt Orvieto liegt, ins Tal riss, wurde durch diesen Zufall eine der antiken Grabstätten freigelegt, und die Einwohner versuchten, mit Feldstechern den Inhalt der jetzt sichtbaren Kammer zu ergründen. Als Peter und ich eben das versuchten, erblickten wir nur Erdreich, uraltes Erdreich.
Nachmittags badeten wir im Fluss, und vom Schilf aus erklärte mir Peter, während ich im Sand liegend zuhörte, seine zwölf Methoden, wie man eine Frau dazu bringt, dem geliebten Mann von sich aus den Laufpass zu geben. Dazu gehörten: immer zu laut reden, sich Witze wiederholen und erklären zu lassen, die laufende Nase am Ärmel abstreifen und dies auch kommentieren … Nie wieder habe ich einen Mann getroffen, der eine ähnlich magnetische Wirkung auf Frauen ausgeübt hätte.
Abends brachte ich ihn zum Bahnhof, seine Hand ragte noch lange bewegungslos in die Luft vor dem Fenster, und sie tat es noch, als sich der Zug schon in die Kurve lehnte. Dafür hatte ich plötzlich zwei Polizeibeamte an meiner Seite. Sie fassten mich zur Rechten und zur Linken am Unterarm, führten mich ab und verhörten mich in einem kleinen Bahnhofsbüro: Wer der Mann gewesen sei, den ich verabschiedet hätte? Was wir am Fluss geredet hätten? Woher wir kämen, und warum ich die Wahrheit nicht sagen wolle? Von draußen klang das Vogelzwitschern herein und dann und wann das Klingeln der herabgekurbelten Schranken.
Ich stellte mich der Prozedur und gab meine Antworten gern, genau und ausführlich. Bis heute weiß ich nicht, was die beiden Polizisten von mir wollten. Als sie mich endlich gehen ließen, hatte ich das Gefühl, ihnen ein lieber Zeitvertreib gewesen zu sein, oder vielleicht hatten sie auch einfach nur an mir geübt, jedenfalls war mein Zug nach Florenz lange weg. Ich schlief noch eine Nacht in unserer Locanda in Orvieto und trat um einen Tag verspätet die Rückreise an.
Drei Wochen später lernte ich auf den Straßen von Florenz einen deutschen Sänger kennen und verbrachte mit ihm und der ihn umgebenden Gesellschaft aus Exilanten und Durchreisenden eine Nacht im Garten der Villa Scifanoia in San Domenico, dem Fiesole vorgelagerten Ort. Dort hatte die zusammengewürfelte Gesellschaft Quartier gefunden, und da die Nacht so schön war, ließen wir sie nicht enden. An diesem Tag kehrte ich erst im Morgengrauen in mein Kloster nach Settignano zurück und hatte gerade mal zwei Stunden geschlafen, als ich an der Schulter wachgerüttelt wurde. Vor dem Bett kniete mein Freund Antonio, der Uffizien-Wärter, und
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