Die Enden der Welt
angesichts der Wiederholung. Fiel das Leben nicht gerade in eine verbrauchte Pose zurück? Die Treppe, die Fassade, das Sonnenlicht, der Duft der heißen Steine, das war wie unverändert. Doch der Blick bündelte alles loser, ging ich doch weniger auf eine Kirche, auf ein Fresko, ein Weltgericht zu als auf eine Frau.
Es kam aber anders. Nicht mal schaulustig, sondern bloß abwartend und auf den zügigen Durchgang durch Signorellis Weltgericht gestimmt, blieb ich auf der vorderen Kirchenbank sitzen und schweifte in die Fresken, die den Blick gleich an sich rissen, gewagt und schrecklich, wie sie waren. Diese rücksichtslosen Bilder beleidigten eigentlich den sakralen Raum durch ihre Drastik und Vulgarität, ihre Effekthascherei und ihre Pointen. Der örtliche Klerus hatte Signorelli während seiner Arbeit damals sogar Religionsunterricht erteilt. Man hatte ihm ein Konzept abgenötigt, hatte, was bildfähig sein sollte, exakt mit ihm abgestimmt. Doch erwies er sich als schwer erziehbar, und hängt nicht sogar dem Arbeiter auf Piero della Francescas »Legende vom Heiligen Kreuz« in Arezzo, dem Hauptwerk von Signorellis Lehrer, gleich rechts vom Altar, ein Hoden aus dem Arbeitsgewand?
Bernadette hatte mir von ihrer Kinderfrömmigkeit geschrieben. Im Alter von sieben Jahren hatte ihr der Pastor im Kommunionsunterricht alle Sünden erlassen. Die bis heute begangenen zählten alle nicht, sagte er, und sie hatte mit inneren Augen auf das weiße Blatt Papier geblickt, das ihr Schuldregister war, und sich gut überlegt, welche neue Sünde es wert sein könne, dort als Erste zu stehen. Also hatte sie dem Pastor seinen Radiergummi gestohlen und war mit dieser ersten Sünde nicht unzufrieden.
Signorelli experimentierte während der Arbeit an seinen Fresken mit Leichen. Er hatte auch seinen toten Sohn gemalt, um ihn nicht zu vergessen, hatte gelernt, wie man durch Pose und Mimik die Individualisierung des Menschen in der Masse betreibt. Er verbog die Leiber ins Unwahrscheinliche, machte Versuche mit ihrer Statik, den Körperschwerpunkten, und fragte sich dabei unermüdlich: Was ist der nackte Mensch? Was bedeutet er?
In der »Erweckung der Toten« und vor allem beim »Sturz der Verdammten« wird seine Phantasie gefährlich frei. Hier öffnet er die Verliese, und die Bilder brechen sich Bahn. In einer tollkühnen Vermischung der heidnischen und der christlichen Welt weitet er die Schöpfung in eine kosmische Anarchie. Fluten steigen über den Horizont, verschreckt duckt sich die Tierwelt, verirrte Menschen schweifen über die Ebene, falsche Propheten suchen das Firmament nach Hoffnung ab, während Dämonen vom Menschen schon Besitz ergriffen haben. Ein blutbedeckter Mond funzelt vom Himmel, der Antichrist thront, sein Ohr dem Dämon leihend. Krieger in schwarzer Rüstung schleifen das Heilige Grab. Sogar die Elemente sind ihrer Gesetzmäßigkeit beraubt und orientieren sich frei und gelöst.
Ja, der Himmel ist eine finstere Suppe, die Sterne lösen sich aus ihren Bahnen und entfachen so nebenbei den Weltenbrand. Das Meer holt sich die Siedlungen, das Feuer frisst sich ins Land, Erdbeben erschüttern den Grund, und die Menschen drängen vorn an die Rampe, aus dem Bild, wollen den Illusionsraum sprengen, wollen übertreten in die Wirklichkeit des Betrachters, der an diesem Tag ich war, hier auf der Kirchenbank, in Erwartung der Sünde, die einen langen Weg hinter sich haben würde zur »resurrectio carnis«. Und tatsächlich, das Skelett entsteigt dem Erdgrund und nimmt Fleisch an oder entfaltet sich in die Blüte seiner anatomischen Schönheit hinein, rein wie der Gedanke, aber doch Fleisch.
Mit zwölf, hatte Bernadette geschrieben, nahm sie an einem Wettbewerb teil um die schönste Puppe. Es gewann die ihre, die hässlichste, die nur die Augen bewegen konnte. Doch war ihre Besitzerin damals eben beliebt, sie war hübsch, hatte nur die hübschesten Freunde und außerdem ein perfektes schwarzes Hündchen namens »Arrow«. Ihren ersten Kuss erhielt Bernadette auf dem Friedhof neben dem Haus. Kaum geküsst, entschied sie, nichts jemals mehr zu machen, das so intensiv sei.
»Warum?«, fragte der Junge, vier Jahre älter als sie.
»Es ist Sünde«, sagte sie.
»Was genau ist daran Sünde?«, wollte der Junge wissen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »aber es fühlte sich ganz sicher an wie Sünde. Das kann ich sagen.«
Am Tag darauf redete sie sich um Kopf und Kragen beim Versuch, dem Lüsternen die Sünde zu erklären.
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