Die Enden der Welt
Arbeiter vom Balkan, aus Polen, auch aus Asien und Afrika hier, und am 1 . April feiert man sogar das thailändische Neujahrsfest.
Kaum einer merkt, dass hier die Welt zu Ende ist, denn kaum einer kommt her, außer mal ein paar Handelsreisende, die im einzigen Hotel ihr »Continental Breakfast« verschlingen und dann nicht weiterwissen. Sogar eine blonde Touristin soll hier wochenlang klaglos gewohnt haben. Nach ihrer Abreise mietete sich ein Sonderling aus dem Ort für eine Nacht in ihrem Hotelzimmer ein und wurde gefunden, wie er sich gegen den Duschvorhang presste, der nur einen Tag zuvor noch an ihrem blonden Körper geklebt haben musste. Man sagte dem Polizisten Bescheid, doch der fand kein Gesetz, das zu diesem Verstoß gepasst hätte.
Es gibt ein Postamt hier, in dem sich vierschrötige Frauen von der Gummierung der Briefmarken ernähren. Sie sind sehr ernst und stellen nur ungern Telefonverbindungen zum Kontinent her. »Telefon« heißt »Sími«, also »Draht«, so wie »Fernsehen« »Sjónvarp« heißt, der »Bildrausschicker«. Es ist, als würde die Technik in das Vokabular des frühen Werkzeuggebrauchs übersetzt, doch bei Licht besehen schickt das Fernsehen weniger Bilder raus als bloße Datenmengen. Auch einen kleinen Flughafen gibt es in Isafjördur. Nach Reykjavik, gewiss, aber vor allem nach Norden kann man von hier aus fliegen, in eine Gegend, die ehemals romantisch und unzutreffend »das ewige Eis« hieß, nach Grönland, ins Nichts.
Tagsüber ist Isafjördur ein wunderlicher kleiner Ort voller scheuer Individuen, die mit einer Forke oder einer Plastiktüte lange Strecken zurücklegen, nie stehenbleiben und zu Dorftrotteln ein wohlwollendes Verhältnis pflegen. Im Café ernährt man sich von Schichtkuchen, und die Jugendlichen fahren die paar hundert Meter Corso, die sie haben, drehen die Scheiben herunter, stellen die Musik laut und imponieren – aber wem? Wenn nur schon das erste Augustwochenende wäre und das jährliche Schlammfußball-Turnier stattfände!
Gegen Abend wird im einzigen Kino irgendein Film aus dem fernen Ausland gezeigt. Der Ton dringt bis auf die Straße. Die Anlieger öffnen sogar die Fenster, lehnen sich heraus, blicken auf die Außenwand des Kinos und hören zu. Nach der Vorstellung ist es im Sommer immer noch hell, aber menschenleer.
Auch am Wochenende herrscht um 22 Uhr schon völlige Stille. Der Blick geht aufwärts in den hohen Himmel, ockergrau ist er heute. Auf dem Friedhof stehen die Kindergräber wie Kinderbetten aus Holz oder Stein, eingefriedet, als wolle man die Kleinen zurück in den Schutz ihres Schlafes holen.
Tritt man aber eine Stunde später wieder auf die Straße, ist sie proppevoll, heulen Motorräder auf. Sogar ein Jahrmarktsgerät wurde am Platz errichtet, eine Überschlagsschaukel nämlich, die die Getränke im Bauch der Fahrgäste zu Cocktails schüttelt, denn getrunken wird jetzt bis in die dunkelblaue Rammdösigkeit hinein, und erst im Morgengrauen – aber wann ist das, wo es doch immerzu graut? – kreiseln sie alle heim. Dann stellt der Ort sich tot.
Anderntags ziehen sie erst in den frühen Nachmittagsstunden die Vorhänge auf, und der Blick geht wieder hinüber ins Nichts, wo irgendwo die Schneefelder an Grönlands Ostküste warten. Ein Bretterzaun noch, ein Blumenbeet, dahinter die Mole, rostige Kähne, die einen Blend aus Algengeruch und fauligem Fisch ausschwitzen. Drei Straßenzüge vielleicht. Manche Häuser wurden gegen das Wetter mit Blech verschalt, andere trotzig farbig angestrichen. Die Seeluft aber frisst an allem. Unter den blätternden Fassaden trotzen manchmal noch ein paar Blümchenrabatten, dann kapituliert der Ort, und der Blick geht frei über eine Senke: Kein Strauch, keine Straße. Eine Meerenge, kristallkalt, die Hügel gegenüber Schemen bloß. In ihren Schneetälern Tiere in Weiß, im Blau des Wassers Fische in Blau.
In Isafjördur ist endlich Schluss mit der Welt. Jeden Tag tut sie hier ihren letzten Atemzug und suggeriert dem Besucher, dass auch er endlich verschwinden sollte. Aber für immer.
Als im Wirtshaus die Tanzmusik aussetzte, ein Fensterflügel dem Wind nachgab und aufsprang, da war endlich das Klappern der Fahnenschnüre am Mast zu hören. Ins Gesicht des Polizisten an meiner Seite trat eine tiefe Besinnlichkeit. Der letzte Mord liegt über zwanzig Jahre zurück. Wenn nicht die Rowdys wären, er hätte nichts zu tun, und wenn vor einiger Zeit nicht einmal auf einer Eisscholle ein Eisbär aus
Weitere Kostenlose Bücher