Die Enden der Welt
Allerwelts-Weißwein.
Wenn man aber weiterschlendert, gelangt man bei einer Reihe bunter Kabinen an den Badestrand der Schwarzen oder Farbigen, die man hier wohl auch einfach Afrikaner nennen darf. Hier bleiben sie unter sich in einer Art Strandreservat, stehen lange in der Brandung, lagern sich dann in Kleinfamilien um ein Frotteetuch, werfen sich Bälle zu.
Ich gehe durch die auslaufende Brandung, als mir ein quadratischer Fetzen grauen Papiers vor die Füße gespült wird. Als ich ihn entfalte, handelt es sich um den ausgewaschenen Pass eines Südafrikaners, geboren 1981 , der wie ein Ertappter aus seinem gestempelten Foto blickt. Ein über Bord gegangener Mensch? Ein Bestohlener? Ertrunkener? Ein aus dem Leben Gegangener oder Gestoßener? Es weckt die Einbildungskraft, wenn der Atlantik als Strandgut eine Identität anspült. Ich setze mich in ein Internet-Café und suche den Mann in den Weiten und Tiefen des Netzes. Niemand dort trägt seinen Namen, sein Leben bleibt ein ungelöstes Rätsel, eine Anekdote bloß, die einzig ein Staunen darüber anspült, dass es das gibt: einen spurlosen Menschen, noch dazu einen, der seine Identität im Ozean verliert.
Am Ende der Straße liegt ein Antiquariat. Unter ein paar Revue-Fotos, ausgestopften Tieren und der Autobiographie eines professionellen Vogel-Fotografen, betitelt »I walked into the woods«, finde ich das handgeschriebene Tagebuch eines Bergsteigers. Innen liegt das Foto einer Frau, die die beiden Männer zu ihren Seiten mit versöhnlicher Energie an sich rafft, eine Art Hochgebirgs-»Jules-und-Jim«. Ich nehme das Buch mit und beginne es abends unter der Lampe zu entziffern. Wäre es nicht schön, sechzig Jahre nach ihren Exkursionen die Spur dieses Trios aufzunehmen? Doch sind die Aufzeichnungen menschenleer, der Steiger hat sich ganz auf die Kraftanstrengung, die Erhebungen und die Flora konzentriert. In der Strapaze aber unterliegen die Individuen alle dem gleichen Diktat: Sie werden allgemein und sprechen in Allgemeinplätzen, wenn auch extremen. Die drei Menschen auf dem Foto aber stammen aus einem ganz anderen, jenseits der Anstrengung unsichtbaren Leben. So lege ich ihr Foto zum Pass des unbekannten Südafrikaners.
Später kommt mir der Gedanke, dass diese Bildzeugnisse durchaus etwas beglaubigen: Wiewohl ohne Fährten jenseits der Bildränder, sind sie Momentaufnahmen aus dem Leben von Menschen, in denen zugleich Leben ist und Nichts. Genau genommen kann dem Betrachter in diesen eingefrorenen Augenblicken auch zuerst das Nichts auffallen und seine Ausdehnung: Ich blicke auf, in das Gesicht der südafrikanischen Fernsehansagerin, und sofort höhlt sich auch ihr Text aus, nein, sie selbst höhlt sich aus, sie ist, für die Dauer ihrer Erscheinung auf dem Schirm, gefüllt mit Nicht-Sein, sogar Nichts-Meinen. Auch anderswo und überall: Die Kellnerin balanciert ein Tablett, sie ist nicht bei der Sache; das Gebäude meint keinen Stil, keinen Ausdruck, es möchte keine Leidenschaft besiegeln; die Stimme des Piloten, des Zugchefs, des Sitznachbarn, alle sind von vollendeter Absichtslosigkeit, als wollten sie sagen: Übergehen Sie mich bitte. Ich will Sie mit mir nicht behelligen.
Später am Abend kehre ich zurück in das Restaurant. Die Freunde sitzen immer noch dort, über einem Meeresfelsen, auf dem sich zwei Seehunde gerade flossenschlagend der Vermehrung hingeben. Am Nebentisch hat sich der wächserne alte Galan mit dem Kolorit einer Miso-Suppe und dem elitär ausgegliederten Gesichtsausdruck entschieden: Heute ist er pikiert vom Leben. Der schwule Freund an seiner Seite wirkt dagegen vor allem jugendlich gestimmt. Das muss so sein, weil das Alter über seine Augen in ihn eingedrungen ist. Es lässt ihn von innen welken. Bald wird er das Blondieren aufgeben, das Färben der langen Koteletten einstellen und die folkloristischen Armbänder ablegen. Der Alte beugt sich zu seinem haarigen Ohr und flüstert:
»Cheer up, mein Miesmuschelprinz!«
An unserem Tisch berichtet Pierre, der südafrikanische Golflehrer, gerade, wie er im Krüger-Nationalpark das seltene Schauspiel verfolgte, das Elefanten bei der Begattung bieten.
»Es sah aus, als bestiege eine Kathedrale die andere.«
»O, you saw elefants«, wirft die Charity-Miss ein, »elefants for me are like Wow!«
Darauf ein Schrei, so hoch und manieriert, als mache sich jemand lustig. Aber nebenan läuft eine Flamme über den Tisch, läuft mit dem Spiritus aus der gekippten Lampe direkt in das
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