Die Enden der Welt
oder zu Kleinstädten sammelt, dann schlängelt sich die Straße auf den Orchideenhals der nordwestlichen Landzunge, den Westfjorden zu, jener einsamen, von Landflucht gezeichneten Gegend, die einmal Bauernland sein sollte. Heute sieht man nirgends in Island so viele aufgegebene Höfe wie in diesen Hügeln. Erst schauten sich die Landflüchtigen in der Provinzhauptstadt Isafjördur um, dann zogen sie doch lieber weiter nach Reykjavik oder von hier in die Welt.
Die Formationen des Himmels kehren am Boden wieder, zwischen den Buckeln der weiblichen und der männlichen Berge, wie man hier sagt, im Lavagestein und in den Moosbetten. Jetzt treibt der Wind das Sprühwasser den Wasserfall hoch, und Menschen sehen aus den Häusern mit Gesichtern wie vom Schnee oder von den langen Nächten gebleicht. Auch hier liegt über der Sommerlandschaft noch die Schläfrigkeit eines schweren Winters.
Wenn man in einen Gastraum tritt, heben sich ein paar dieser eisgefrorenen Gesichter von einem fremdartigen Spiel, alle schweigen für einen Augenblick. Dann kommt auf wollbestrumpften Haxen eine Bedienerin herbei und legt einem vierhundert Polaroids in einem Album vor:
»Hier können Sie sehen, wie aus einer Baustelle ein solcher Gastraum werden konnte.«
Das muss ich sehen. Sie sagt das ernst, gefeit vor der Unart der falschen Freundlichkeit. Dann widmet man sich der Fotodokumentation, als handele es sich um den Beipackzettel eines Medikaments, staunt pflichtschuldigst, isst ein hartgekochtes Ei und überlässt die Anwesenden ihrer Erinnerung. Kaum verschwunden, ist man selbst eine.
Die Straße gehorcht der Willkür der Fjorde, die sich unpraktisch tief in das Land gefressen haben. Man fährt lange. Mal kommt ein Schaf um die Ecke, mal niemand. Die Natur beansprucht ältere Rechte als die Zivilisation, die sich deshalb noch defensiv gebärdet. In aller Ruhe bewegt man sich rückwärts durch die Evolution, in einen Zustand, da alles noch aus Eis, Feuer, Wasser, Asche, Sand und Magma bestand. In den Buchten rosten die Hafeninstallationen, der Verputz schimmelt von den Wänden, die Kinder glotzen auf die leeren Straßen.
Isafjördur liegt am Ende aller Straßen, am Ende aller Fjorde. Dies ist keine Stadt, es ist eine Ablagerung, aus Dingen, die das Eismeer angespült hat. Diese Ansiedlung hat den Fjord im Namen, »Eisfjord« heißt sie. Sie wurde in Form eines Halbrunds auf eine Sandbank gebaut, die immer weiter aufgeschüttet werden musste und nun tief in den Fjord reicht. Im 9 . Jahrhundert fand hier der Stadtgründer Helgi eine Harpune, »Skutull« genannt. Viel mehr hat er nicht getan. Ihm folgten Händler aus anderen Regionen Islands, aus Norwegen und Dänemark, und später gründeten auch Deutsche und Engländer in dieser Gegend Handelsniederlassungen.
Wie das Leben hier war? Im Jahr 1656 verzeichnet die Stadtchronik: Jón Jónsson junior wurde in Isafjördur an der Seite seines Vaters verbrannt, weil sie Hexenbücher besaßen und weil der Junge außerdem noch magische Zeichen verwendet hatte, um bei einem Mädchen Blähungen zu erzeugen.
Gewiss, die Isolation macht empfänglich für Botschaften von der anderen Seite. Zwei Wintermonate lang bleibt die Sonne deprimiert unterhalb des Bergkamms, der die im Talkessel gelegene Stadt auf drei Seiten umgibt. Die Straßen sind oft eingeschneit und unpassierbar, und durch die zahllosen Schotterwege, die weitschweifig um die Fjorde führen, werden selbst die Landreisen beschwerlich. Gegen die Anfechtungen der kosmischen und der menschlichen Natur gibt es Schutzgeister, die über dem Krankenhaus, der Schule, den Spielplätzen und dem Altersheim schweben, und man kann auf speziell dafür bestimmten Karten die Fußwege verfolgen, die ins Feen- und Elfenreich führen.
Das Zentrum der Westfjorde zählt heute nicht mal viertausend Einwohner. Seit dem 18 . Jahrhundert hatte sich in der an Kabeljau reichen Gegend durch Klippfisch- und Stockfischverarbeitung relativer Wohlstand entwickelt. Auch lag hier einmal die größte isländische Shrimps-Fabrik. Doch inzwischen wurde sie in einen Betrieb zur Herstellung von Tiefkühl-Sushi umgewandelt, und da der Fischfang seit den achtziger Jahren eingeschränkt ist, verlassen die Leute die Stadt, ist das Leben hier nicht mehr das, was es war. Überhaupt wollen die Einheimischen inzwischen nur noch ungern in der örtlichen Industrie arbeiten, und so leben stattdessen Vertreter aus etwa vierzig anderen Nationen anspruchslos in dieser Gegend. Man findet
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