Die Enden der Welt
Wolke für Wolke. Erst nimmt der Nebel bloß die Kontraste, dann lindert er die Konturen, dann mattiert er das Bild, schließlich lässt er alles wie durch eine Milchglasscheibe erscheinen oder schickt eine Sphäre, dick wie Suppe. Mit verzerrten Gesichtern treten die Rückkehrer aus dem Grau der Steilwand heraus, Gepäckstücke, Kanister, Textilien in den Händen. Ein Mann schüttelt nur immerfort den Kopf, die Rechte fasst mit Daumen und Zeigefinger in die inneren Augenwinkel, als müsse er sich konzentrieren, in der Linken schlenkert ein orangefarbenes Barett.
Die Heraustretenden machen abwehrende Gesten.
»Geht da nicht hin!«
»Gott, das Motorrad …«
Die in den Dunst laufen, werden farblos, dann zu Scheiben, zu bloßen Silhouetten, die wie durch eine Ausstanzung in der Nebelwand verschwinden. Jetzt erscheinen die Menschen ja schon selbst wie aus Nebelmasse geformt, sie verlieren sogar ihre Dreidimensionalität und kehren ins Schattenreich ein. Das Relief des Körpers verflacht, die Farben verschießen, die Silhouetten finden ihren Eingang in der Nebelwand und passieren. Zuletzt sind sie nur noch eine dunkle Aussparung im Nachtatem und treten durch diesen hindurch. Vor uns liegt das Jenseits, hinter uns die verbotene Kurve, in unserem Rücken der einschüchternde Himalaja. Wir ducken uns zwischen diese Steilwände als die Verschonten. Der einzige Farbfleck weit und breit, so leuchtend, als sei nur er gegen die Wirkung des Nebels resistent, ist das orange leuchtende Barett des Jungen, das immer noch in der Hand des Boten schlenkert.
Isafjördur
Der blinde Fleck
Nachts schlagen nur noch die Leinen gegen die Fahnenmasten. Das war der Anfang: Ein Geräusch im Kopf, eine korrespondierende Stimmung. Von dem Wunsch beflügelt, das zu hören, bin ich losgereist. Meine Sehenswürdigkeit war ein Geräusch, aufgelöst in einem Wind mit Schneegeschmack. Dazu die Empfindung für das Unliebliche, für das klamme Gefühl, das nasse Böen an den Körper tragen. Auch der Sommer Islands ist noch überlagert vom langen Winter, von den Anforderungen eines beharrlichen Zeitvertreibs im Vor-sich-hin-Dämmern. Die Gemütszustände wirken angetaut, aber außerhalb Reykjaviks wird man nicht so schnell hysterisch, bloß weil die Sonne mehr Kraft gewinnt.
Jenseits der Hauptstadt erhält sich die Einsamkeit der Lebensformen in einsamer Landschaft. Kontemplative Gegenden sind dies, die zum Verschwinden einladen, geformt auch vom Recht, das man der Natur gegenüber der Zivilisation einräumt, ihrem Geist, ihren Geistern. Isländische Dörfer sitzen darin wie manche Mikroorganismen, die kurz blühen, lange dämmern.
Ich wohnte am Stadtrand von Reykjavik und hörte die Leinen nicht an den Fahnenstangen knattern. Unter den Leuten hörte ich, wie Worte verflatterten in Assoziationsräumen. Unter den Vokabeln fand ich so wenige Importe wie unter den Waren, auch wenn in den Antiquariaten die gerahmten Porträts der NS -Größen an den Wänden hingen und die braunen Bibliotheken alter Nazis ganze Regale füllten. Hierher, ins Land der altisländischen »Edda«, waren viele von ihnen ehemals geflohen. Manchmal entdeckte ich verschrobene Arten des Amüsements, nie gesehene Brettspiele zum Beispiel oder stumme Kinder-Scharaden. Ich beobachtete ein Land mit kaum einer Million Einwohner, aber mit einer Fachzeitschrift für die nationalen Showbelange, ein Land, das seine Individualität ins Wunderliche rettete und einmal von einer Präsidentin regiert wurde, die ihren Dienst mit dem Satz antrat: »The hand that rocks the cradle can rock the system.«
Ich erlebte Menschen, noch unabgeschliffen von gesellschaftlichen Basiskonventionen: Verhältnisse begannen im unverwandten Starren, einem Stieren ohne Lidschlag, begleitet von gestisch-mimischem Minimalismus. Erst in der zweiten Begegnung stellten sich Verbindungen her, entsprungen im Wiedererkennen, im Anknüpfen an die stumme Vorgeschichte. Verstockt blieben allenfalls die Kinder.
Bevor die Welt endet, seufzt sie und macht ein Bäuerchen in Blau. Touristen nennen das eine die »seismische Aktivität«, das andere einen »Geysir«. Sie schauen gebannt hin, legen sich in schweflige Pfützen und versprechen sich ewige Jugend davon.
Besser, man lässt sie liegen, das isländische Zentralmassiv hinter sich und die Reiseführer auch, in denen das Ende der Welt gar nicht vorkommt. Im Rückspiegel des Geländewagens kann man noch zusehen, wie sich die Landschaft südöstlich zu Hochgebirgen türmt
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