Die Enden der Welt
Reise zu ermöglichen. Mit »schöne Aussichten« meint er seine Zukunft, mit »freundliche Aussichten« Wetter und Börse, mit »rosige Aussichten« seine Illusionen. Wenn all das nicht mehr ist, sieht er schwarz.
Doch einmal kommen die Aussichten auch im Singular vor: als schöne Aussicht. Die ist ergreifend. Deshalb werden Gaststätten nach ihr benannt, mit Blick auf die Küste, die Bergkette, den Turm. Und der Besucher verlangsamt, hält inne und ernährt sich vom Blick. Die Aussicht sagt ihm, dass er die richtige Höhe, den passenden Einfallswinkel gefunden hat, und dass »der große Derdiedas« seine Hand eben erst aus der Natur gezogen hat. Sein Atem geht noch darüber. Eine Aussicht ist immer dann schön, wenn der Betrachter vor ihr klein wird. Dann ist sie erhaben, denn er selbst ist bloß eine Bagatelle.
Die eigentliche Magie des Augenblicks aber ereignet sich im Zusammenfluss der Aussichten mit der Aussicht: Man genießt den schönen Blick in die Landschaft symbolisch. Nur in der Selbstvergessenheit vor einer solchen Aussicht verschmilzt der Raum mit der Zeit. Mit einem Mal erscheint in diesem Blick in die landschaftliche Ferne die Zukunft und macht den Betrachter still und fromm. Dann schießt er ein Foto. Die Aussicht ist drauf, die Zukunft nie.
So gibt es denn Reisende, denen nur der erste Schritt gelingt: Sie folgen ihrem Impuls zu verschwinden. In der Fassade dringen sie weder zur Freude noch zum eigenen Bedürfnis durch, verfangen sich in Fotografien, im eigenen Land, im Herkommen, in Analogien zum Bekannten. Und gelangen nicht weg von sich.
Der umgekehrte Fall ist der des glücklichen Menschen, der auf dem Gipfel erst recht zu sich kommt, wie jener Mann, der alle höchsten Erhebungen Europas bestiegen hatte und auf meine Frage, ob er dabei auch Höhepunkte der Erfahrung erlebt habe, erwiderte: »Ja, und zwar eigentlich bei jedem Gipfel, da kann er noch so klein sein. Es stellt sich dann bei mir ein elitäres Gefühl ein, denn ich weiß, ich bin der Einzige, der so etwas macht. Gemischt mit Dankbarkeit, dass es mir möglich ist. So lange gehe ich auf den Gipfel zu und weiß schon: Den kann mir keiner mehr nehmen, und endlich stehe ich oben. Da brauche ich dann mindestens eine Stunde, um so etwas wie einen persönlichen Gottesdienst zu feiern. Tränenanfälle überkommen mich manchmal bei Bergen, die es eigentlich gar nicht verdienen, die nichts Besonderes sind. Aber ich selber bin ja auch nichts Besonderes.«
Das Kap mag eine stumpfe Kuppe, ein glanzloser Hügel sein, aber eigentlich wendet die Fremde dem Reisenden doch überall etwas Vertrautes zu – das Rühren des Reisigbesens über dem Zementboden des Bahnhofs, der abgebrochene Kleiderhaken an der Klotür, ein Lichtast, auf dem der Staub tanzt, oder der Anblick des Gähnenden hinter seiner Zeitung. An den offensichtlichen Enden der Welt liegt oft Niemandsland, besetzt mit Buden. Sie wenden sich vom Anblick des Nichts weg, den Menschen zu, die hier anbranden, allen Menschen, allen Ansprüchen. Touristen suchen den Weg in den Moment, der sich vom Souvenir beglaubigen lässt.
»Ich bringe dich an einen Ort, wo die Welt wirklich zu Ende ist«, sagt Pierre. »Er heißt God’s Window und liegt in der Provinz Mpumalanga im Osten, nicht weit vom Krüger-Nationalpark.«
Wir reisen. Manchmal schließt sich der Regenwald über den Pisten, manchmal liegen die Straßendörfer da wie in der Savanne. Dann wieder haben die Viehhirten ihre Gehege und Hütten mit Palisaden gegen wildernde Großkatzen geschützt, ein andermal öffnen sich Steppen und wüst versandete Flächen, auf denen die kargen Rundhütten aus Adobe-Ziegeln den Sonnenglast ausatmen. Der Boden ist fleckig, Pigmentstörungen zeichnen die Haut der Erde.
Wir essen auf einer Veranda an der Straßenbiegung. Der Kellner serviert dazu diese Geschichte: Bei einer Safari wird eine Frau von Löwen zerrissen. Der trauernde Gatte bestreut die Leiche mit Rattengift, damit die Löwen, wenn sie wiederkommen, an ihrem Hunger sterben.
Die Straßen gewinnen wieder an Höhe. Hoch über dem Lowveld, wie das tausend Meter unterhalb der Panorama-Route gelegene Land heißt, liegen die alten Primärwälder konsterniert und buschig. Die neu aufgeforsteten Bauminseln kräuseln sich daneben wie Broccoli. Wo das Wasser in die Schluchten fällt, liegt eine zerschmetterte Anatomie der Felsen, die in den Himmel ragen wie ausgehöhlte Wirbelknochen. Doch kaum hat man ein solches Flussbett hinter sich, kann sich der
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